: Geschärfter Hörsinn
Klangskulpturen, Philosophen und Abenteuer: Die 13. Konzerttagung der projektgruppe neue musik in Bremen
Zweihundert BlockflötistInnen bauten im Bremer St. Petri Dom mit Urs Peter Schneides „Häresie“ eine zwanzig Minuten dauernde Klangskulptur. Im Radio Bremen-Sendesaal spielte das Ensemble Percussions de Strasbourg mit Luigi Nonos „Con Luigi Dallapiccola“ eine Komposition, die sich im zeitlichen Stillstand zu einem intensiven, feingliederigen Klangkörper verwandelte. Und Francois-Bernard Mâches „Aera“ im fulminaten Abschlusskonzert der französischen Schlagzeuger, wiederum im Dom, ließ im wellenförmigen Anschwellen differenziertester Schlagzeugklänge deren akustische Materialität erfahren.
Am vergangenen Wochenende hatte die projektgruppe neue musik bremen erneut zu einer ihrer – nicht nur in Deutschland – einzigartigen Konzerttagungen eingeladen, nach einjähriger, finanziell erzwungener Pause zum 13. Mal. Das Thema lautete diesmal: „... aus der Bewegung ... Aktionen, Räume, Resonanzen in zeitgenössischer Musik“. Einzigartig ist dieses Treffen nach wie vor, weil es keinen anderen Ort gibt, an dem sich Konzerte, Vorträge und Diskussionen zu einem Fest von Geistigem und Sinnlichem verdichten.
Mit Raum, Bewegung und Aktion wurde ein Phänomen jüngerer Musikentwicklung thematisiert, das nicht nur die Gestalt von Musik erneuert, sondern auch unsere musikalische Wahrnehmung verändert hat. Der Eröffnungsvortrag des Musikjournalisten Reinhard Schulz erhellte wichtige physikalische, philosophische und kompositionsgeschichtliche Hintergründe für solche Veränderungen. Zu Recht hob er dabei das Spätwerk Luigi Nonos hervor, das durch die Komposition des Raumes eine neue Qualität erhalten hat.
Die beabsichtigte Vertiefung durch den Vortrag von Tilman Reitz blieb allerdings aus, da sein philosophisches Konzept wesentliche kompositorische Veränderungen nicht einmal tangierte. Sehr viel aufschlußreicher waren da die Ausführungen von Urs Peter Schneider, der anhand eines beispielhaften Durchlaufs des eigenen Schaffens vor Augen und Ohren führte, warum er für seine Musik – bis hin zur Entwicklung einer neuartigen Interpretationskultur – jene Kategorie des Raumes benötigte.
Das wurde auch in allen vier Konzerten mit einem breit gefächerten Spektrum an Werken von Julio Estrada (Mexiko) über Michael Maierhoff und Uwe Rasch (Deutschland) bis zu Alvin Lucier (USA) in sehr unterschiedlicher Weise erfahrbar. Allerdings ließ die musikalische Qualität so mancher Kompositionen, besonders im Eröffnungskonzert, zu wünschen übrig.
Höhepunkte der Konzerttagung war die Aufführung des „Seiltanzes“ für 6 Bläser, Schlagzeug, Kontrabaß und Spieler von Hans-Joachim Hespos mit dem Ensemble Phoenix aus Basel und Mateng Pollkläsener (Spieler) als wunderbaren Interpreten im Güterbahnhof. Dieses wahrhaft „Szenische Abenteuer“ für Interpreten wie Zuhörer, provozierte und amüsierte, schärfte in seiner klanglichen Zuspitzung unmöglicher Situationen nicht nur den Hörsinn, sondern die kritische Wahrnehmung von Kunst wie auch Gesellschaft. Gisela Nauck