: „Man muss genau voneinander trennen“
taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 10): Ein Mord wie an dem holländischen Regisseur Theo van Gogh wäre auch in Berlin denkbar, aber kaum die darauf folgende Eskalation. Zwei Experten über Islam, Integration, Gewalt und islamfeindliche Ressentiments
taz: Was denken Sie, wenn Sie in die Niederlande blicken?
Eberhard Seidel: Es ist entsetzlich. Im Grunde ist es ein schleichender Bürgerkrieg. Dennoch überraschen mich diese Ereignisse nicht.
Hat die Entwicklung auch Züge eines schleichenden Religionskrieges? Moscheen und Kirchen brennen.
Mittlerweile gibt es viele, die sagen, Samuel Huntington habe doch Recht gehabt, der Kampf der Kulturen findet statt. Die Niederlande seien ein Beweis dafür. Ich halte das für falsch, zumindest wenn man behauptet, hier treffen die säkulare westliche Kultur und die islamische Kultur aufeinander. Das wäre eine Missachtung all jener, für die es kein Problem ist, in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Es handelt sich um einen Kampf zwischen politischen Formationen, die wir auch aus Deutschland kennen. Von Neonazis zum Beispiel.
Aber dieser Kampf sucht sich religiöse Symbole.
Ja. Deshalb ist es so wichtig, Islamismus und Islam strikt voneinander zu trennen, also Islam als Religion und Islamismus als politische Bewegung zu betrachten. Islamismus hat mit Religion oft wenig zu tun, obwohl er sich religiöser Symbole bedient.
Wäre in Berlin eine ähnliche Entwicklung wie in den Niederlanden denkbar?
Auch in Berlin wäre denkbar, dass jemand umgebracht wird, weil er sich Allah gegenüber despektierlich geäußert haben soll. Es ist aber fraglich, ob es zur gleichen Explosion kommen würde.
Warum?
In Deutschland kommen die meisten Muslime aus der Türkei, einem Land mit einer 80-jährigen Erfahrung mit Laizismus. In breiten Teilen der Bevölkerung ist angekommen, dass es Sinn macht, Staat und Religion zu trennen. Das ist in Ländern wie Marokko nicht der Fall. Insofern ist die Situation in den Niederlanden und Frankreich anders.
Gleichwohl gibt es auch Islamisten in Berlin. Wie gefährlich ist der Islamismus in der Stadt?
In der Vergangenheit gab es immer wieder Übergriffe auf Kritiker des Islamismus. Es gab einen Messerüberfall auf einen türkischen Mitarbeiter des Fernsehsenders Aypa-TV, weil er über eine Gedenkveranstaltung zu den Pogromen von Islamisten in Sivas in der Türkei berichtete. Und ein Aussteiger von Milli Görüs, mit dem wir zusammengearbeitet haben, ist viermal zusammengeschlagen worden.
Haben Sie selbst – als Kritiker des Islamismus – Angst?
Angst ist der falsche Ausdruck. Aber eine Bedrohung gibt es. Es hat angefangen mit Telefonanrufen bei mir zu Hause. Es gab Klagen, bei denen es um den Versuch ging, mich mundtot zu machen. Ob ein Schuss durch das Fenster meiner Wohnung auch auf das Konto islamistischer Kreise oder aber auf neonazistische zurückgeht, weiß ich nicht.
Wie ist das passiert?
Ich wohne im Dachgeschoss und mir wurde vom Dachstuhl gegenüber ins Schlafzimmer geschossen. Ich lag zu dieser Zeit gerade auf dem Bett. Die Polizei konnte den Fall nicht aufklären. Es ist passiert, nachdem ich die Broschüre „Politik im Namen Allahs“ herausgebracht habe, über die sich eine Menge Leute sehr geärgert haben. Bei einer Kollegin wurden damals die Fensterscheiben eingeworfen und ein Brandsatz unter ihr Auto gelegt. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich für all diese Bedrohungen nicht interessiert. Das wäre heute anders. Heute besteht fast schon ein hysterisches Interesse an solchen Vorfällen.
Ist das ein Hinweis darauf, dass die Mehrheitsgesellschaft islamophob geworden ist?
Ich habe in der Vergangenheit immer wieder der These widersprochen, dass es bei uns ein Feindbild Islam gebe. Hätte es dieses Feindbild gegeben, wäre es nicht denkbar gewesen, dass Berlin 30.000 muslimische Flüchtlinge aus Bosnien aufnimmt. Auch in der Auseinandersetzung um das Kopftuch habe ich keine islamfeindliche Haltung gesehen. Und der 11. September hat ja eher das Interesse daran erhöht, mit Muslimen in Kontakt zu kommen. Natürlich gibt es Ressentiments gegenüber dem Islam, etwa wenn in der Nachbarschaft Moscheen gebaut werden sollen. Aber nicht jeder Konflikt ist antiislamisch.
Aber die Stimmung hat sich doch verändert – auch in den liberalen Mittelschichten.
Natürlich, auch bei den vormals ausländerfreundlichen Milieus. Das hat auch damit zu tun, dass man in der Vergangenheit viele Probleme nicht sehen wollte.
Verknüpft sich dieser Stimmungswechsel nun auch mit der Religion der Migranten?
Auf beiden Seiten. Viele Zuwanderer fühlen sich plötzlich ihrer Religionsgemeinschaft zugehörig und machen das auch nach außen hin deutlich. Und auch viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft nehmen Einwanderer jetzt in erster Linie als Muslime war. Zudem werden soziale und politische Fragen zunehmend religionisiert.
Wäre es möglich, dass in Berlin ein van Gogh populär wird?
Den liberalen Konsens, den van Gogh provoziert hat, gibt es in dieser Form in Deutschland nicht. Auch nicht den kulturellen Relativismus, dass jeder nach seiner Fasson leben könne. Wir haben viel stärker gefordert, dass sich die Zuwanderer anpassen sollen. Das hat, bei allem konservativen Zungenschlag, auch etwas Positives gehabt.
taz: Frau Demirbüken-Wegner, wie denken Sie dieser Tage an Amsterdam?
Emine Demirbüken-Wegner: Das ist ein schreckliches Ereignis. Ein Terroranschlag, bei dem ich hoffe, dass die Justiz mit den Tätern kein Pardon hat.
Glauben Sie, dass ein solches Ereignis auch in Berlin stattfinden könnte? Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky hält dies ja für möglich?
Auch ich halte es für möglich, dass so etwas in Berlin stattfinden könnte. Insofern stimme ich mit Herrn Buschkowsky überein. Wo ich ihm aber widerspreche, sind die möglichen Gründe eines solchen Ereignisses. Herr Buschkowsky führt eine solche Möglichkeit auf die misslungene Integration in seinem Bezirk zurück. Ich sage, das hat nichts mit misslungener Integration zu tun, sondern mit terroristischen Strukturen. Und die gibt es überall auf der Welt. Insofern kann es auch uns in Deutschland treffen.
Sie sehen nicht die Gefahr, dass sich Jugendliche aufgrund ihrer konkreten Erfahrungen in Berlin radikalisieren?
Ja, das muss man sehr genau voneinander trennen. Eine misslungene Integration führt nicht automatisch zu Terroristen. Es ist nicht so, dass wir hier überall nur latente Fanatiker hätten.
Hat sich in Berlin in der Mehrheitsgesellschaft die Stimmung gegenüber Migranten verändert? Gibt es nicht auch in liberalen Milieus zunehmend eine Haltung, die sagt: Jetzt ist Schluss mit lustig?
Das gibt es, eine solche Stimmung hat es aber auch schon vor dem Terroranschlag gegeben und sie wird es auch weiter geben. Auch bei den Migranten. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die ein Stück weit die „Verlierer“ der Gesellschaft sind. Und diese „Verlierer“ müssen wir zurückgewinnen, das gilt auch für die „Verlierer“, die es in der deutschen Gesellschaft gibt.
Welche Rolle spielt die Religion in diesen Dingen? Sowohl auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft, als auch in der Selbstdefinition der Migranten?
Das Bekenntnis zu einer Religion, sei es zum Islam oder zum Christentum, bedeutet doch nicht gleich, dass man ein Fanatiker ist. Aber gerade im Bezug auf den Islam tut man das. Der Islam wird in Europa und auch in Deutschland immer sofort mit Terror gleichgesetzt. Wenn wir an den Islam denken, haben wir sofort Bilder aus dem Iran, dem Irak oder Afghanistan vor Augen. Aber wir denken nicht an einen säkularisierten, liberalen und offenen Islam wie beispielsweise in der Türkei.
Das heißt, es gibt eine islamophobe Grundstimmung in der Öffentlichkeit?
So ist es. Und davon müssen wir erst mal runterkommen. Auch ich bin eine Muslima, aber ich bin doch nicht gleich eine latente Fanatikerin oder eine latente Terroristin. Wenn die Religion eine Rolle in der muslimischen Gesellschaft spielt, dann ist es eine andere als die, die mit ihr in Verbindung gebracht wird. Dann geht es um Fragen wie: Was sind meine Wurzeln und ein Teil meiner Identität? Das beinhaltet auch die Frage nach der Religion. Das gehört in die Sozialisation eines jeden Menschen.
Hat diese islamophobe Grundstimmung den nicht religiös motivierten Alltagsrassismus abgelöst, oder hat sie ihn verstärkt?
Ich denke, dass sie ihn verstärkt hat, weil wir die ganze Frage nicht differenziert behandeln.
Würde jemand wie Theo van Gogh auch in Deutschland oder in Berlin populär werden können?
Natürlich. Alles, was spektakulär ist, alles, was Klischee ist, alles, was in Bezug auf den Islam negativ dargestellt werden kann, passt in die bereits vorhandenen Bilder.
Aber die Niederlande hatten Theo van Gogh, Italien hat Oriana Fallaci, Frankreich hat Michel Houellebecq, in Deutschland gibt es eine solche Person noch nicht.
Ich hoffe auch, dass das so bleibt. Das schließt aber nicht aus, dass wir eventuell schon solche Fanatiker in unserer Gesellschaft haben. Vor einigen Tagen erst wieder ist in Berlin ein Hassprediger aufgetreten.
Ist vor dem Hintergrund der Ereignisse in den Niederlanden die deutsche Integrationspolitik positiver zu bewerten als zuvor? Immerhin hat hier niemand die Illusion erweckt, als wären wir bereits in einer multikulturellen Gesellschaft angekommen.
Ich habe nie gesagt, dass die Integrationspolitik in Deutschland total misslungen ist. Man darf auch Deutschland, das ja erst auf eine kurze Geschichte der Migration zurückblickt, nicht Unrecht tun. Wir müssen auch über die positiven Entwicklungen in der Gesellschaft reden. Darüber hinaus haben wir die Chance, auf die Migrationsentwicklungen anderer Ländern zu schauen, die eine viel längere Erfahrung mit Integration haben, und dort auch sehen zu können: Was machen die falsch und was können wir besser machen?
Steht die Integrationspolitik gegenüber arabischen Migranten vor anderen Herausforderungen als gegenüber türkischen Migranten?
In arabischen Ländern spielen die tradierten und kulturellen Werte eine ganz andere Rolle als in der Türkei. Die Türkei blickt dagegen auf eine lange Tradition des laizistischen Islam zurück.
Interview Uwe Rada