: Soziale Sicherheit ist machbar
Die Grünen sollten aufhören, auf die mit Gutverdienern besetzten Reformkommissionen der Volksparteien starren. Ein Blick in die europäischen Nachbarstaaten bringt weit mehr
Bisher fehlten der grünen Sozialpolitik klare theoretische Konturen. Unter den Bedingungen der Parteienkonkurrenz ist das ein Nachteil, sobald die Bevölkerung es merkt. Die Rettung besteht in der Idee der Bürgerversicherung, in die alle Bürger gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzahlen. Das ist kein neuer, aber ein wichtiger Gedanke, der im Einkommenssteuerrecht schon lange maßgeblich ist. Auf der Finanzierungsseite ist die Bürgerversicherung also nicht mehr als die Umwandlung von Arbeitnehmerbeiträgen in eine allgemeine Sozialsteuer.
Auf der Leistungsseite bleibt die seit 2002 geltende Programmatik der Grünen freilich blass. Das hat mit zwei Theoriedefiziten zu tun: Den Grünen fehlt sowohl ein Konzept von Gerechtigkeit als auch von öffentlichen Gütern. Eine Lösung für beide Mängel soll kurz angedeutet werden. Daraus folgen konkrete Vorschläge für die Politik. Sie lauten: Lernt von den Nachbarn, konkret von der schweizerischen Renten- und der österreichischen Krankenversicherung.
Das älteste abendländische Gerechtigkeitskonzept, das aristotelische, unterscheidet die austeilende von der ausgleichenden Gerechtigkeit. Karl Marx steht in dieser Tradition, wenn er für den Kommunismus als Regel nennt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. In der heutigen Diskussion tauchen beide Konzepte als „Leistungsgerechtigkeit“ und als „Bedarfsgerechtigkeit“ auf.
Für die erste gilt in modernen Gesellschaften der Markt als zuständig, für die zweite die Gemeinschaft in Form der Familie oder einer größeren Kommune. Im Sozialstaat tritt ein drittes Konzept dazu: die „Verteilungsgerechtigkeit“. Die soziologische Trias von Markt, Staat und Gemeinschaft ist keineswegs akademisch. Bis heute scharen sich die politischen Ideologien um sie: Liberale lieben den Markt, Sozialdemokraten den Staat, Konservative die Gemeinschaft (Familie, Nation, Volk). Es lässt sich jedoch noch ein viertes Konzept ausmachen: die „Teilhabegerechtigkeit“. Ihr Bezug sind die Werte, vor allem die Menschenrechte. Ihre Liebhaber müssten eigentlich die Grünen sein. Aber diese zieren sich noch. Teilhabegerecht wäre eine Sozialpolitik, die nicht auf den Rollen in Markt, Staat und Familie aufbaut, sondern an den Menschen.
Die Staatsquote – also der Anteil staatlich induzierter Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt – lag in Deutschland 2002 bei 48,6 Prozent, die Sozialquote – der Anteil der Sozialausgaben – bei 33 Prozent. Staatliche Intervention legitimiert sich über die Theorie „öffentlicher Güter“. Sie war stets strittig. Derzeit sind es die so genannten Neoliberalen, die öffentliche Güter zugunsten des Marktes vermindern wollen. Subventionen sollen verschwinden, der Sozialstaat abgebaut werden. Seit dem Fortfall der realsozialistischen Konkurrenz nach 1989 neigen auch Sozialdemokraten diesem Modell zu.
Was also rechnet man im Sozialstaat berechtigterweise zu öffentlichen Gütern? Für unsere Frage sind zwei Felder relevant: die wirtschaftliche Grundsicherung und die Gesundheit. Das Nötige als öffentliches Gut lässt sich nicht für alles begründen – für eine menschenwürdige Existenzsicherung jedoch schon. Dagegen spräche das Prinzip der Subsidiarität: Erst einmal sollen die anderen Gerechtigkeiten wirken, der Markt, die Familie, auch noch die Umverteilung. Man kann das aber auch anders sehen. In einer weltweit arbeitsteiligen Gesellschaft kann man nämlich sagen: Jede und jeder hat ein Grundrecht auf menschenwürdige Existenz – und zwar als Mensch und nicht erst als Lohnarbeiter, Unternehmer oder Familienmitglied.
Im Falle der Alterssicherung heißt Teilhabegerechtigkeit: eine existenzsichernde Grundrente für jede Bürgerin und jeden Bürger. Was oberhalb davon gebraucht wird, kann der Markt regeln, die Gemeinschaft oder auch der Staat – für „wirklich“ Bedürftige (wie Kranke oder Behinderte) oder für alle (wenn er sozialistisch sein will). In der Praxis empfiehlt sich ein Mix.
Die Schweiz hat mit ihrer ersten Säule der Alterssicherung, der so genannten Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), einen solchen Mix gewählt: Derzeit zahlen alle Erwerbstätigen 9,8 Prozent ihres gesamten steuerlichen Einkommens in die Bürgerversicherung ein. Wer kein Einkommen, aber Vermögen hat, zahlt Pauschalsätze. Der Mindestbeitrag beträgt jährlich 824 Franken. Wer die durchschnittliche Beitragszeit seines Jahrgangs erreicht hat, erhält die Grundrente, die sich aus Alters-, Zusatz- und Kinderrente zusammensetzt. Hinzu kommen Ergänzungsleistungen für Rentner, die über keine anderen Einkommen verfügen. So sollen vor allem die Wohnkosten den Pensionäre gedeckt werden.
Die Maximalrente beträgt das Doppelte der Grundrente (für alle drei Elemente). Männer und Frauen haben einen eigenständigen Rentenanspruch, die gemeinsame Rente wird bei gemeinsamem Haushalt auf 150 Prozent der beiden Einzelrenten begrenzt. Das wäre auch ein Modell für Deutschland – denn es begünstigt Frauen und Geringverdiener und ist, wegen des breiten Umverteilungsvolumens, demografiestabil.
Vor allem aber ist das Schweizer System besser als die Vorschläge der Rürup- und der Herzogkommissionen zusammen. Beide wollen das Rentenniveau kräftig senken, private Ersparnisse werden für Geringverdiener praktisch unnütz, Frauen gelten weiter als Rentenbürger zweiter Klasse. Die Grundrente in der Schweiz ist etwa so hoch wie die Durchschnittsrente deutscher Arbeiter. Dafür zahlen auch Großverdiener ein: ein kleines Stück Sozialismus.
Auch für die Bürgerversicherung im Gesundheitssystem bietet ein Nachbar ein gutes Beispiel. In Österreich sind 99 Prozent der Bevölkerung über die staatliche Krankenversicherung als obligatorische „Volksversicherung“ geschützt. Die Beitragssätze liegen derzeit um die 7,5 Prozent. Beamte müssen zusätzlich einen Eigenanteil von pauschal 20 Prozent tragen, mitversicherte Angehörige zahlen einen Zusatzbeitrag, alles bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze etwa wie in Deutschland. Auch hier gilt das Prinzip der Teilhabegerechtigkeit: Alle Bürgerinnen und Bürger sollen am medizinischen Fortschritt und an Präventionsmaßnahmen teilhaben.
Weder Rürups noch Herzogs Kommissionen haben hier ein funktionstüchtigeres Modell vorgelegt. Die Schweiz ist in Sachen Krankenversicherung weniger glücklich. Sie führte 1996 die (Herzog-Rürup’sche) Kopfpauschale ein. Seitdem steigen die Beiträge unverhältnismäßig. Zudem brauchen 30 Prozent der Schweizer einen Zuschuss, denn die Pauschalen sind je nach Kanton sehr hoch.
Was bedeutet das für die Grünen? Sie sollten weniger auf die von Beamten und sonstigen Gutverdienern besetzten Volksparteienkommissionen hören, sondern mehr auf ihre Prinzipien und: auf die Bürger. Diese sind nämlich für eine Bürgerversicherung, aber für eine richtige. Sie soll alle Bürgerinnen und Bürger verlässlich sichern und nicht zu viel kosten. Das geht. Jedenfalls in den Alpen. Warum nicht hier? MICHAEL OPIELKA