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Archiv-Artikel

„Wir haben die Wahl zwischen Demokratie und Clanherrschaft“, sagt Juri Andruchowytsch

Der Westen interessiert sich nicht für die Ukraine. Doch die Entscheidung am Sonntag ist auch für die EU wichtig

taz: Herr Andruchowytsch, Sie haben den „Offenen Brief von zwölf apolitischen Literaten über die Wahl und die Wahlen“ unterschrieben und unterstützen den Kandidaten der demokratischen Opposition, Wiktor Juschtschenko. Warum?

Juri Andruchowytsch: Die Ukraine ist seit dreizehn Jahren unabhängig – nun stehen wir nun vor einer existenziellen Wahl, die alle meine Gedanken beschäftigt. Denn ich will in einem freien Land leben, und ich will frei in meinem Schaffen sein. Diese beiden Werte sind in Gefahr. Das sind meine Beweggründe.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass es bei diesen Wahlen nicht nur darum geht „wie die Ukraine sein soll“, sondern darum, ob sie überhaupt existieren wird. Warum ist diese Wahl so wichtig?

Weil es die Wahl zwischen zwei Wertsystemen ist, zwischen zwei gesellschaftlich-politischen Orientierungsmustern. Zum ersten Mal gibt es im postsowjetischen Raum, abgesehen vom Baltikum, die historische Möglichkeit, den Teufelskreis des Autoritarismus und der Clan-Herrschaft zu durchbrechen. Es gibt die Möglichkeit, mit der Wahl eines grundsätzlich anderen, „nicht sowjetischen“ Politikers, Wiktor Juschtschenko, Demokratie, Bürgergesellschaft und Normalität zu erringen.

Im Westen sind die Wahlen bislang nicht in den Fokus des Interesses gerückt …

Ja, leider. Denn diese Wahlen sind nicht nur für die Ukraine wichtig, sondern auch für Deutschland. Sogar wichtiger als die Wahlen in den USA. Die Ukraine grenzt unmittelbar an die EU. Aber ich merke, dass die Ukraine nicht mal als Randregion Europas betrachtet wird. Sie scheint irgendwo außerhalb Europas, irgendwo weit entfernt zu liegen. Als ein armes, uninteressantes, unwichtiges, unattraktives Land. Wir brauchen Solidarität, in welcher Form auch immer. Das ist doch eine neue, interessante Erfahrung: Wie kann auf einem Territorium, das als völlig hoffnungslos gilt, etwas Neues entstehen? Genau das passiert hier derzeit.

Was sich in den letzten Monaten in Kiew ereignet hat, nennen manche „die Revolution der Kastanien“. Ist es wirklich eine Revolution?

Ich würde mit dem Wort „Revolution“ vorsichtig umgehen. Und der Begriff „die Revolution der Kastanien“ – das ist eher eine künstliche Erfindung der von der Macht angestellten Polittechnologen, die vielleicht gehofft haben, dass es ihnen gelingt, Kämpfe zu provozieren. In der Wirklichkeit sind hier andere Symbole im Spiel: Wenn schon, dann ist es die „orange Revolution“. Das ist die Farbe der Wahlkampagne des oppositionellen Kandidaten. Die Menschen ziehen orangefarbenen Kleidung an, in Kiew sind Bäume mit orangefarbenen Streifen geschmückt sowie Autos unterschiedlicher Marken und Klassen. Diese grelle Farbe ist ein Gegensatz zu dem früheren Grau, zu der Undeutlichkeit. Der Orange-Boom hat etwa eine Woche vor der ersten Wahlrunde begonnen. Die Menschen erkennen einander an dieser Farbe, lächeln einander an …

Glauben Sie, dass die Situation noch eskalieren kann?

Das ist offen. Bis jetzt gibt es noch die Chance einer normalen friedlichen Lösung ohne revolutionäre Extreme – einfach über die Wahlen und die legalen Ergebnisse dieser Wahlen. Man kann eher über die Revolution im Bewusstsein sprechen: Ich bin erstaunt, wie schnell und intensiv sich diese Gesellschaft verändert. Das ist für mich eine Art der Revolution, eine völlig friedliche.

Was hat sich verändert?

Kiew war in den Neunzigerjahren politisch passiv. Zu den Demonstrationen kamen maximal 30.000 Menschen, und selbst das erst nach riesiger Organisationsarbeit. Jetzt ist die Gesellschaft dermaßen mobilisiert, dass man innerhalb einiger Stunden eine Demonstration von 200.000 Menschen organisieren kann. Das ist ein Zeichen für eine unerwartete gesellschaftliche Entwicklung. Unerwartet für die Macht. Und das ist eine gute Perspektive für dieses Land.

Stimmt das, dass der oppositionelle Kandidat Juschtschenko die Westukraine vertritt und der amtierende Ministerpräsident Janukowitsch die Ostukraine?

Nein, das ist die Version des Wahlteams des Machtkandidaten: Seine ganze Wahlkampagne, Strategie und Taktik basierte auf diesem Klischee. Wäre es wahr, dann würde Juschtschenko doch nach der ersten Runde durchgefallen. Aber er siegte in 17 von insgesamt 27 Regionen der Ukraine.

INTERVIEW: VIKTORIA BALON