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Archiv-Artikel

Das Haus der Sarah Winchester

Sie hatte das Vermögen geerbt, das ihr Schwiegervater, der Gewehrfabrikant, durch den Tod ungezählter Menschen erworben hatte. Was vielleicht ihre Angst vor den Geistern der Toten erklärt – und ihr höchst wunderliches Gebäude im kalifornischen Silicon Valley

VON REINHARD TIBURZY

Im Silicon Valley steht ein seltsames Haus. Rundum aus Holz, mit wunderlich verschachtelten Anbauten, sinnlosen Türmchen und unzugänglichen Veranden, mit spitzen Erkern und knallroten Dächern will es, halb viktorianische Villa, halb Disneyland-Fantasieschloss, so gar nicht zwischen Shopping Mall, Movie Theaters und Texmex-Restaurants in das berühmte Tal der Halbleiter passen.

Und dann erst das Innenleben dieser Behausung! Treppen, die unter Zimmerdecken enden, Türen, hinter denen sich blankes Mauerwerk verbirgt, Lichtschächte, durch die nie ein Sonnenstrahl dringt – das sind nur drei der über hundert Absonderlichkeiten dieses verkorksten Bauwerks. Es wurde nach dilettantischen Plänen von billigem Architektenverschnitt zusammengenagelt, möchte man meinen – doch weit gefehlt, denn die Bauherrin hatte nie einen Vertreter der Zunft konsultiert. Vielmehr wurden die Pläne für den bizarren 160-Zimmer-Holzbau von Geistern diktiert. Der verwunschene Holzbau an der Business-Meile von San José ist der gestaltgewordene Ausdruck der Lebenstragödie einer vom Schicksal schwer erschütterten Frau: Sarah L. Winchester (1837–1922).

Die junge Witwe von William W. Winchester, dem Sohn des millionenschweren Gewehrfabrikanten, hatte das frühe Ableben ihrer Tochter Annie und ihres Gemahls – ihr Kind starb 1866 als Säugling an Auszehrung, ihr Mann fünfzehn Jahre darauf an Tuberkulose – nie ganz verkraftet. Voller Gram über den qualvollen Tod ihrer Lieben wurde die Witwe von dem Gedanken besessen, das könne nur die Rache der Tausenden sein, deren Leben durch Kugeln aus der Winchester Rifle, „the gun that won the west“, ausgelöscht worden waren. Schlimmer noch: Sie war bald vollends überzeugt, dass die Geister der Toten, darunter besonders viele gemeuchelte Indianer, auch sie holen wollten. Sarah Winchester, die seit jeher zum Okkultischen neigte, wollte Gewissheit, ging nach Boston und begab sich in die Hände eines Spiritisten. Was dort geschah, weiß niemand genau, doch warf es die Frau vollends aus der Bahn.

Wie von mystischen Kräften gehetzt, machte sich die steinreiche Witwe auf in den Westen, rastlos suchend, was sie bald im Santa Clara Valley fand: ein schlichtes Farmhaus. Was es dann aber beileibe nicht blieb. Kaum hatte sie es gekauft, heuerte Sarah Winchester unverzüglich anderthalb Dutzend Zimmerleute und Schreiner an, begann mit dem Umbau des Hauses, und – was verblüfft – hörte damit Zeit ihres Lebens nie wieder auf. Achtunddreißig Jahre lang tönte werktags wie sonntags unablässiges Hämmern und Sägen durch das Gebäude, derweil sich sieben japanische Gärtner an einer haushohen Hecke zu schaffen machten, welche die Hausherrin zum Schutz vor neugierigen Blicken um das Anwesen anpflanzen ließ.

Unter der Regie der Selfmade-Konstrukteurin wuchs der Bau zunächst in die Höhe. Ein Wald von minarettartigen Türmen, etliche davon sieben Stockwerke hoch, entdeckt man auf alten Fotos des Hauses. Doch davon ließ das Erdbeben, durch welches das nahe San Francisco 1906 fast ausgelöscht wurde, nicht viel übrig. Dies war Sarah Winchester, die man erst Stunden nach dem Beben wimmernd unter Trümmern in ihrem Schlafzimmer fand, offenbar eine Lehre: Fortan breitete sich das Haus nur noch zu den Seiten hin aus.

Wie eine bösartige Geschwulst ist es seither gewachsen, hat eine hölzerne Scheune amöbenartig umflossen und sich das verwitterte Bretterwerk einverleibt. Zugladungen Holz, Berge von Glas und Tonnen von Nägeln hat es vertilgt während der drei Dutzend Jahre dauernden Metamorphose, bei der hier Räume, Gänge und Türme verschwanden, bloß damit dort andere entstanden. Durch tausende Fenster giert das Monster von einem Haus nach noch mehr Terrain, doch das wird es nicht kriegen, denn seit dem Tod der Witwe Winchester wächst es nicht mehr.

Noch heute zeugen halb eingeschlagene Nägel vom abrupten Abbruch der Arbeiten, als am 5. September 1922 die Kunde vom Ableben der alten Dame zu den Handwerkern drang. Erst dann trat das volle Ausmaß der manischen Bauwut zutage. 160 Räume hat dieser Bau, vierzig Schlafzimmer, dreizehn Badezimmer, sechs Küchen, fünf Aufzüge, fünfzig Treppen, 47 Kamine, zehntausend Fenster und so viele Türen, dass deren Schlüssel mehrere Koffer ausfüllen würden. Und das Ganze für nur eine Person?

Und warum, so muss man sich fragen, sind manche der Gänge und Türen so niedrig, dass man sich nur gebückt hindurchzwängen kann? Warum sind andere so schmal, dass man nur mit einer Schulter voran weiter kommt? Warum gibt es Schranktüren, hinter denen sich Zimmer verbergen, oder Zimmertüren mit Schränken dahinter? Was wurde durch die vielen versteckten Gucklöcher ausspioniert? Wem nutzten die geheimen Durchgänge in den Wänden? Wozu die Treppe, die unter der Zimmerdecke endet, die Türen, hinter denen sich blankes Mauerwerk verbirgt oder sich gähnende Abgründe auftun? Wozu die Lichtschächte, durch die nie ein Sonnenstrahl gelangt?

Und die seven-eleven, die Treppe, die aus keinem nachvollziehbaren Grund sieben Stufen abwärts führt, und dann wieder elf Stufen hinauf? Wozu der Kamin, der unter der Zimmerdecke endet? Warum wurden fast alle Pfosten im Hause upside down installiert? Und warum ausgerechnet dreizehn Badezimmer? Weshalb führen dreizehn Stufen zum dreizehnten Bad, welches seinerseits wieder dreizehn Fenster aufweist? Weshalb wurde dem kolossalen Kronleuchter im großen Ballsaal zu den zwölf ursprünglichen Kerzenhaltern ein dreizehnter hinzugefügt?

Die Erleuchtung kommt aus dem Munde einer rotwangigen Lady, die in ein knöchellanges Kleid aus der Zeit der Jahrhundertwende gehüllt während täglicher Führungen Besucher durch das hölzerne Labyrinth lotst. „Poor Sarah“, wie sie Mrs Winchester stets nach familiär-amerikanischer Manier vertraulich beim Vornamen nennt, fühlte sich von allen guten Geistern verlassen und von den bösen verfolgt.

Sie tat daher alles, um den guten Gespenstern durch Luxus zu schmeicheln und den rachsüchtigen Seelen den Weg zu verbauen, sie zu foppen, zu frustrieren und irrezuführen, auf dass sie in ihrem Hause nicht von ihnen gefunden werden könne. So diente neben den Geheimtüren und Schächten, Stolperstufen und Kaminen, versteckten Räumen und Gängen auch die allgegenwärtige Zahl dreizehn, von der die Witwe glaubte, sie schrecke die bösen Geister, einzig diesem Unterfangen. Wandspiegel hätten eine ähnliche Wirkung entfalten können, wusste Mrs Winchester doch, dass Gespenster den Anblick ihrer fehlenden Spiegelbilder nicht ertragen können. Doch das hätte auch die guten Geister verprellt. Deshalb existierten im ganzen Hause nur zwei Spiegel, einer in Sarahs Bad, der andere im großen Ballsaal – mit der spiegelnden Fläche zur Wand!

Die guten Geister mit Komfort zu verwöhnen – am Geld mangelte es nicht. Ungebremst zumindest von Geldsorgen, konnte die Erbin des Winchester-Vermögens frei walten und schalten, waren doch fast 49 Prozent der Winchester Repeating Arms Co., dazu zwanzig Millionen Dollar „Blutgeld“, wie sie es nannte, und ein Einkommen von täglich noch einmal tausend Dollar – alles steuerfrei – an sie übergegangen und flossen bei stets offenem Hahn in das Haus. Zahlreiche Wände ließ sie mit französischen Tapeten bekleiden und Tiffany-Fenster aus farbigem Glas, Felsquarz und Kristall, heute unbezahlbar, einbauen.

Und dann das Holz! Afrikanisches Mahagoni, Rosenholz und Teak – es gibt keine edle Holzart, die man nicht in diesem Hause vorfindet. Fußböden, formvollendet mit Parkett ausgelegt, gibt es in Hülle und Fülle, teilweise so aufwendig verarbeitet, dass für den Boden in einem Zimmer ein Mann ein ganzes Jahr gebraucht haben soll.

Nur die Ausstattung für den großen Ballsaal, in dem nie ein Ball stattfand, wurde außer Haus fabriziert. Handgeschnitztes Vogelaugenahorn, reich verziert mit Gold- und Silberblatt, bekleidet die Wände, und die farbigen Glasfenster zu beiden Seiten des offenen Kamins weisen zwei Zitate von Shakespeare auf, dessen Worte hier für etwas stehen, das bisher niemand ergründen konnte: „Wide unclasp the table of our thoughts“ und „These same thoughts people this little world“.

Sechs Safes, in Beton eingelassen und voll der wertvollsten Dinge, gab es im Haus. Der im großen Ballsaal enthielt das damals dreißigtausend Dollar teure Winchester-Gold-Service, aus dem die Witwe abends zu speisen pflegte. Häufig wurde für dreizehn gedeckt, für sie und zwölf imaginäre Gäste. Und allabendlich nach dem Dinner trugen zwei Bedienstete das geputzte Gold zu dem Safe, an dessen Seite die schwarz verschleierte Witwe darauf harrte, die Teile zu zählen. Dass auch Einbrecher davon gewusst haben müssen, daran besteht kaum Zweifel. Doch war nie einer so naiv, sein Glück im Winchester-Haus zu versuchen – wohl wissend, wie schnell man sich im Dunkeln in dem vertrackten Haus verirren konnte.

Herz des Hauses war der nur durch eine geheime Tür in einem Wandschrank zu erreichende séance room, klein, fensterlos und puderblau. In der spärlich möblierten Kammer hockte die steinreiche Witwe allnächtlich während spiritistischer Sitzungen und bemühte die Guten unter den Geistern, um zu erfahren, durch welche Maßnahmen sie diese bei Laune und sich deren böse Artgenossen vom Leib halten könne. Zu ihren Lebzeiten soll außer ihr kein Sterblicher je auch nur einen Fuß in diesen Raum gesetzt haben.

Wenn poor Sarah abends dorthin loszog, dürfte es selbst einem gewitzten Spürhund schwer gefallen sein, ihr zu folgen. Stundenlang führte sie zunächst ihre vermeintlichen Verfolger in die Irre. Eben noch in einem Zimmer, dessen One-way-Tür das Verlassen desselben nicht mehr zuließ, war die listige Dame aus diesem längst durch eine Geheimtüre entwichen, hatte etliche Haken geschlagen und befand sich bereits am anderen Ende ihrer labyrinthischen Behausung, indes den bedauernswerten Geistern, zu deren Ärger sich eine vermeintliche Ausgangstür als Dummy erwies, offenbar nichts anderes übrig blieb, als durch den eigens zu diesem Zweck aufgestellten Kamin vor Wut in die Lüfte zu steigen.

Für das pünktliche Erscheinen der guten Geister wurde besondere Sorge getragen. Bei Gespenstern jeglicher Couleur ist es, wie jedermann weiß, verpönt, vor Mitternacht zu erscheinen, doch ohne Uhr läuft da nichts. Kirchtürme leisten hier gute Dienste. Da es jedoch in der Nachbarschaft keine gab, ließ Mrs Winchester auf ihrem Haus einen Glockenturm errichten, mit einer Glocke, deren Seil bis in den Keller hinabhing.

Damit kein Unbefugter die Glocke läutete, ließ die Witwe ein ausgefuchstes unterirdisches Labyrinth von Gängen anlegen, durch das zu dem Glockenseil zu finden nur einem japanischen Bediensteten gelang. Dieser trug eine Uhr, die er allabendlich in seinem Zimmer mit drei der besten Chronometer abglich, die man zu jener Zeit für Geld bekommen konnte. Damit nicht genug, war der Diener gehalten, täglich beim astronomischen Observatorium anzurufen, um die Genauigkeit der drei Chronometer zu überprüfen. War durch diese Prozedur die korrekte Zeit sichergestellt, erschollen Punkt Mitternacht zwölf Glockenschläge; und um den Spuk wieder zu beenden, wurde den folgsamen Geistern um zwei heimgeläutet. Erst jetzt begab sich Sarah Winchester zu Bett, jede Nacht in ein anderes ihrer vierzig Schlafzimmer.

Einst dem gesellschaftlichen Leben durchaus zugetan, war die Witwe überaus scheu geworden. Ihr Gesicht stets hinter einem schwarzen Schleier verbergend, dirigierte sie ihre achtzehn Bediensteten im Hause meist über ihre Nichte und Sekretärin, Margaret Merriam, oder mittels eines ausgetüftelten Systems von Sprechrohren aus der Distanz. Zwei Handwerker, denen sie versehentlich unverschleiert über den Weg gelaufen war, wurden unverzüglich entlassen, allerdings mit einem vollen Jahresgehalt Entschädigung. Schließlich war es nicht deren Schuld, dass die alte Dame ihnen mit entblößtem Gesicht begegnet war.

Um persönliche Dinge einzukaufen, benutzte die verschleierte Witwe eines ihrer beiden Automobile, das sie jedoch dabei nicht verließ. Vielmehr mussten die Waren zu ihr ans Auto gebracht werden, aus dem heraus sie begutachtet und gekauft oder zurückgewiesen wurden. Niemals empfing sie Besucher im Hause, wer draußen läutete, wurde von einem ebenso tadellos gekleideten wie förmlichen Butler abgewiesen: „Madame is indisposed.“ Selbst Präsident Theodore Roosevelt, der 1903 während einer Reise durch den Westen bei der Witwe vorbeischauen wollte, wurde an den Hintereingang verwiesen, woraufhin er beleidigt von dannen zog.

1922 entschlief Sarah L. Winchester friedlich in ihrem Haus im hohen Alter von 85 Jahren. Von den zwanzig Millionen Dollar ihres Gatten hatte sie knapp sechzehn Millionen verbraucht, dazu etliche Millionen aus ihrem Einkommen. Ihr Haus samt der Einrichtung hat die Lady ihrer Nichte vermacht. Diese behielt einen Teil des Inventars und versteigerte den Rest. Acht Lkw-Ladungen pro Tag, und das über sechs Wochen, brauchten die Möbelpacker, um den Hausrat wegzuschaffen. Das monströse Bauwerk wurde verkauft und von den neuen Besitzern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, seit 1974 ist es denkmalgeschützt. Bei einer umfassenden Renovierung wurden dreizehntausend Gallonen Farbe verbraucht und diverse Kilometer Rohrleitungen für Sprinkleranlagen installiert.

Täglich finden einstündige Führungen durch das Labyrinth aus Gängen und Räumen statt, wobei den Teilnehmern dringend geraten wird, sich nicht von der Gruppe zu entfernen. Denn es ist nicht leicht, den Ausgang aus dem verwirrenden Fuchsbau zu finden.

REINHARD TIBURZY, 55, arbeitet als freier Reisejournalist und Reiseführerautor mit den Schwerpunkten Benelux und USA. Er lebt nahe Aachen, hinter der belgischen Grenze