: Die Bedeutung des Nichts
DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP
„Wurde bei Ihnen zu Hause über Juden geredet?“ – „So gut wie nicht. Jude zu sein war nicht elegant.“ RBB-Journalistin Magdalena Kemper im Gespräch mit Christina von Braun
Romane sind wichtige Nebenwelten für uns. In ihnen erzählen Schriftsteller in verdichteter Form vom Leben, und die Leser erfahren, wie schön schwer es andere hatten. Das hilft ungemein, gegenwärtige und vergangene Verstrickungen im eigenen Leben zu bewältigen. Romane sind Familiengeschichtsschreibung. Wie aber kann man von etwas erzählen, was man selbst nicht miterlebt hat? Schriftsteller können das. Das ist ja eben ihr Beruf. Sie lassen sich berichten, sie recherchieren, was anderen geschah, durchleben es in sich und schreiben darüber.
Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, sie ist keine Jüdin, wollte einen Roman über eine berühmte Jüdin schreiben. Daraus ist eine dokumentarische Biografie geworden. Es sei ihr unrechtmäßig erschienen, sagte Streeruwitz dieser Tage auf einer Veranstaltung, sich als Romanautorin die Gefühlswelt einer in der Nazizeit verfolgten Jüdin anzueignen. Diese Zurückhaltung von Frau Streeruwitz ist achtbar. Aber was ist mit ihrem Beruf? Selbstverständlich muss sie nicht über alles schreiben können. Doch was könnte sie sich rechtmäßig in diesem Zusammenhang aneignen?
Neben ihr auf dem Podium saß der Literaturwissenschaftler Stéphane Moses. Ein Jude, geboren in Berlin zur Nazizeit. Er erzählte von sich und seiner Familie, wie und wohin sie geflohen waren, um der Deportation zu entkommen. Marlene Streeruwitz, nach 1945 geboren, erzählte nichts von ihrer Familie. Sie wisse nichts. Ihre Eltern hätten nichts erzählt. Sie sagte: „Da flüchte ich mich lieber ganz schnell in die Literatur“, und dann las sie aus ihrem Buch vor, der Biografie über die Jüdin Alma Mahler-Werfel.
Wie lässt sich für deutschsprachige Autoren heute romanhaft erzählen, was zu Hause verschwiegen wurde? Haben die Eltern überhaupt von Juden gesprochen? Was ist aus dem Verschweigen der Eltern in den Nachgeborenen entstanden? Nichts wurde erzählt, hört man allgemein. Doch auch das Nichts ist etwas. In diesem Zusammenhang sogar etwas sehr Bedeutungsvolles.
„Am Beispiel meines Bruders“ heißt ein schmales Buch, das jetzt Uwe Timm veröffentlicht hat. Uwe Timm hat über sich, seine Eltern und seinen Bruder geschrieben. Sein Bruder war bei der SS-Totenkopfdivision. Das Buch will kein Roman sein. Aber Uwe Timm ist nun einmal Schriftsteller, und die Literaturkritik feiert sein Buch als eine Auseinandersetzung mit dem SS-Mann in der eigenen Familie.
Das stimmt so gar nicht. Der Bruder war achtzehn Jahre alt, als er SS-Mitglied wurde, und schon ein Jahr später war er tot. Der Autor war ein kleiner Junge und Kind der Nachkriegszeit, seine Eltern trauerten um den älteren Sohn als einen Helden, an dessen Tod sie ihre Mitschuld verleugneten. Aber auch der Autor verschweigt diese Mitschuld. Timms Stil bleibt karg und emotionslos. Als Schriftsteller spürt er dem Jungen, der er selbst war, nicht nach. Sein SS-Bruder scheint mit achtzehn Jahren vom Vater in die SS getrieben worden zu sein, ein Jahr später starb er im Kriegslazarett. Er ist keinesfalls beispielhaft für SS-Männer, und der Titel „Am Beispiel meines Bruders“ ist darum zumindest unglücklich gewählt.
Unlängst ist von Ulla Hahn ein Roman erschienen. Gleichfalls zum Thema der verschwiegenen Familiengeschichte. „Unscharfe Bilder.“ Eine Tochter glaubt, auf einem Foto der Wehrmachtausstellung in einem Nazimörder ihren Vater zu erkennen, den sie daraufhin im feudalsten Altersheim Hamburgs besucht und befragt. Das Wort Jude taucht in diesem Roman erst am Ende auf. Die deutsch-nationale Vaterfigur der Autorin verliebt sich in eine jüdische Partisanin. Er desertiert und flieht mir ihr, sie schützt ihn, da er den SS-Mann erschlagen hat, von dem sie vergewaltigt wurde.
Aus der Geschichte eines Nazi-Vaters wird bei Ulla Hahn ein Heldenepos samt verbotener Liebesgeschichte. Das liest sich wie eine Fleißarbeit, geschrieben von einer gehorsamen Tochter für einen väterlichen Freund. Als eine Tochter Deutschlands aber hat die Schriftstellerin Hahn jegliche Identifizierung mit ihrem Erbe abgewehrt. Das Ergebnis ist ein triviales Buch. Ulla Hahn hat sich dem Diktat der väterlichen Vergangenheitsbewältiger unterworfen und bedient deren Verlangen nach Schönschreibung.
Stehen wir am Beginn einer literarischen Auseinandersetzung? Hoffentlich. Sie ist notwendig. Und sie fehlt noch immer. Schon beschäftigt sich die zeitgenössische deutschsprachige Belletristik mit der DDR, mit der Wende und ist in der Jetztzeit angekommen. Gefeiert werden Meisterwerke zwanzigjähriger Autoren. Daneben erscheinen Autobiografien zur Flüchtlingsthematik. Doch noch kaum etwas ist romanhaft geschrieben worden über das Verschweigen in den Familien der Nachgeborenen in der damaligen Bundesrepublik und der DDR.
Hier wie dort waren die Eltern in die Nazizeit verstrickt, sie sahen zu oder beteiligten sich an dem täglichen Antisemitismus. In ihrem Verschweigen gegenüber ihren Töchtern und Söhnen hielten sie an etwas fest. Wie hat sich das ausgewirkt, wie wirkt das weiter in den Nachgeborenen? Denn dass es weiter wirkt, erleben wir im Augenblick in der christdemokratischen Parteipolitik.
Beeindruckend ist der vor 23 Jahren geschriebene Roman der österreichischen Schriftstellerin Brigitte Schwaiger: „Lange Abwesenheit“. Es ist die innere Auseinandersetzung der erwachsenen Tochter mit ihrem sterbenden Vater, einem geachteten Bürger, Antisemit und ehemaligen Nazi. Wie hat Brigitte Schwaiger es gemacht? Die Tochter in dem Roman hat ein Verhältnis mit einem alten Juden. Der ist so alt wie ihr sterbender Vater. Die Protagonistin liegt mit dem alten Juden namens Birer im Bett:
„Auf seinem Hemd lag Zigarrenasche. Er merkte das nicht und merkte auch alles Übrige nicht. Er hörte mich nicht über seine Operationsnarbe nachdenken, als wir nebeneinander lagen. Dass man Juden operiert, dachte ich. Dass man sich die Mühe macht! Und wenn mein Vater mich sehen würde im Bett des Juden. Und wenn Birer wüsste, dass wir im Gymnasium Stempel mit Hakenkreuzen auf die Unterarme drückten. Auschwitz bedeutete, dass die Juden dort ausschwitzen mussten. Juden erkennt man an den langen Ohren und am schleimigen Lächeln. Er schaute mich voller Güte an. Er will mir zeigen, dass er mir vergibt. Das ist das Heimtückischste und Gemeinste an ihm. Er will, dass ich mich schuldig fühle. Aber was kann ich denn für die Gedanken, die von Vater sind?“ So weit das Zitat.
Da ist etwas in der Tochter, in sie hineinversteckt vom Vater, das darf nicht aus ihr heraus Sprache werden. Beim Lesen hören wir der inneren Stimme der Tochter zu. Und von welcher Seite die Leser auch sein mögen, sie werden als Nachgeborene ihrer Eltern etwas auffinden. Auf der nichtjüdischen Seite: mit dieser bedrohlichen inneren Stimme nicht allein zu sein. Auf der jüdischen Seite: dass es doch irgendwo abgeblieben sein muss.
Fotohinweis: Viola Roggenkamp lebt als freie Publizistin in Hamburg