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Archiv-Artikel

Gesamtkunstwerk? Nein danke!

SCHRIFTSTELLERINNEN Junge Autorinnen werden schnell eingerastert: gefühlig, kritisch, frech? Bei der 27-jährigen Nora Bossong geht das nicht – gerade damit könnte sie Erfolg haben

Autorinnenmodelle

Judith Hermann. Wurde mit „Sommerhaus, später“ zum Role Model. Ihr zweites Buch „Gespenster“ wurde verfilmt. Am 4. Mai erscheint „Alice“, Fischer Verlag, Startauflage 100.000 Exemplare.

■ Sarah Kuttner. Wurde bekannt durch Funk und Fernsehen (Viva). Ihr Roman „Mängelexemplare“ erschien kürzlich auch im Fischer Verlag und steht derzeit auf Platz 3 der Spiegel-Charts.

■ Julie Zeh kennt man von Podiumsdiskussionen und Preisverleihungen. Viel geschrieben hat sie auch, zum Beispiel die Romane „Adler und Engel“ sowie „Schilf“. Zuletzt erschien „Corpus Delicti“, alles im Verlag Schöffling und Co. Zuletzt erhielt sie den Carl-Amery-Literaturpreis.

■ Nora Bossongs Roman „Webers Protokoll“ erschien in der Frankfurter Verlagsanstalt, hat 284 Seiten und kostet 19,90 Euro.

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Vielleicht begann eine neue Ära der jungen deutschsprachigen Literatur mit einem Foto, mit jenem Foto, das Renate von Mangoldt von der Schriftstellerin Judith Hermann schoss. Ohne dieses Bild, so darf vermutet werden, wäre „Sommerhaus, später“ nur das erstaunlich erfolgreiche Debüt einer jungen Autorin gewesen. Doch Judith Hermanns 1998 erschienener Erzählungsband gilt bis heute als der Ausdruck des Lebensgefühls einer ganzen urbanen Generation, die ihr Zentrum verloren hat und seitdem auf der Suche nach einem diffusen Glück ist.

Das Foto zeigt eine scheinbar entrückte Autorin mit einem Gesichtsausdruck von zeitloser Melancholie; mit einer Aura, deren Ursprung in weit entlegenen Sphären zu suchen sein sollte. Buch und Foto waren ein Glücksfall für die Autorin und ihren Verlag, und beiden ist keinesfalls eine banale Inszenierung vorzuwerfen: Ungeplant stieß das Gesamtkunstwerk Judith Hermann in ein Desiderat von gesellschaftlichen und literarischen Strömungen. Keine Marketingabteilung hätte sich das ausdenken können.

Erfolg produziert Nachahmer, und so wurde Judith Hermann unfreiwillig zum vermeintlichen Zugpferd einer ganzen Welle von Jungautorinnen, die allesamt kurze Sätze schrieben, die rätselhaft-traurig klingen sollten. Auch dafür war schnell ein Etikett gefunden; „Fräuleinwunder“ hieß diese Textlawine bald, war glücklicherweise auch zügig wieder abgeebbt und hinterließ so etwas wie ein Vakuum: Denn in Zeiten des Aufmerksamkeitsschwundes für die Literatur bedarf es umso mehr einer unverwechselbaren Positionierung innerhalb, vor allem jedoch außerhalb des Literaturbetriebes. Im Fall von Judith Hermann geht es einfach immer weiter. Ihr neues Buch „Alice“ erscheint in der kommenden Woche, und noch immer finden sich in den Verlagsvorschauen der Zeit enthobene Schwarz-Weiß-Aufnahmen – was selbstverständlich noch nichts über den Text aussagt.

Schwierig also, sich als junge Autorin mit ästhetischer Eigensinnigkeit durchzusetzen

Wie es richtig geht, hat kürzlich Charlotte Roche gezeigt. Unfair wäre es, ihre Pop- und Moderationskollegin Sarah Kuttner als bloße Epigonin zu diskreditieren. Kuttners kürzlich erschienener Roman „Mängelexemplar“ birgt eine tiefe Zerrissenheit in sich: die zwischen seinem Thema, der Darstellung einer Depression, und seiner Autorin in ihrer rotzigen (und höchst effektiven) Außendarstellung. „Mängelexemplar“ ist zweierlei: Ausdruck eines Unbehagens an sich selbst und Dokument der Unfähigkeit, dieses Unbehagen sprachlich adäquat zu erfassen. Fräuleinwunder, ätherische Melancholikerin, Popgöre – die weibliche deutsche Literatur ist bestens gelabelt und ausgepreist. Fehlt noch die junge, kritische Intellektuelle. Diese Rolle hat Juli Zeh, mit Preisen großzügig bedacht, in beharrlicher Diskurs- und Medienarbeit für sich reserviert. Irgendwann wird sie sich als die legitime Nachfolgerin von Günter Grass in den Talkshows etabliert haben.

Schwierig also, sich als junge Autorin mit ästhetischer Eigensinnigkeit und fern der Klischees durchzusetzen und zu positionieren. Nora Bossong ist gerade einmal 27 Jahre alt und schreibt Prosa und Lyrik. Das ist schlecht, weil schwer einzuordnen. Sie war am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Das ist auch nicht so gut, weil schon etwas abgenudelt. Und sie hat einen Roman geschrieben, der in den Jahren des Nationalsozialismus und unmittelbar danach angesiedelt ist. Da stellt sich die Frage, was sie damit zu schaffen hat. „Webers Protokoll“ heißt das Buch, und es ist ein bemerkenswert gutes. Ein ernsthafter Versuch der Annäherung an geschichtliche Wahrheit und gleichzeitig Literatur, die sich einer rein faktischen Beweispflicht verweigert.

Auf drei Zeitebenen erzählt Bossong von Konrad Weber, der 1943 in Mailand im diplomatischen Dienst tätig ist, 1944, wie er von sich selbst behauptet, „mit dem Regime gebrochen“ hat und schließlich, nach einem Aufenthalt in der Schweiz, in den Fünfzigerjahren als deutscher Abgesandter im Vatikan landet, zu jenem Zeitpunkt, als das Pontifikat Pius XII. sich dem Ende zuneigt. Nora Bossong hat für ihren Roman intensiv in den Archiven des Auswärtigen Amtes recherchiert; möglich, dass es Weber oder eine ähnliche Figur tatsächlich gegeben hat, doch das ist nebensächlich. Beeindruckend ist die Erzählweise des Romans, seine zersplitterte Chronologie, die komplizierte Perspektivengestaltung und die Kunstfertigkeit, mit der sämtliche Stränge beieinandergehalten werden.

Drei Ebenen also, die beiden historischen in den Vierziger- und Sechzigerjahren und eine in der Gegenwart, in der ein greiser Diplomat einer jungen Frau im Hinterzimmer eines Hotels Webers Geschichte erzählt. Die zentrale Frage, die dabei aufgeworfen wird, ist die nach der Legitimität von retrospektiver Beurteilung individueller Entscheidungen als Ausdruck einer ideologischen Position. Ist Weber ein Held? Ein Mitläufer? Ein Täter? Oder alles zusammen? Für jede dieser Zuschreibungen finden sich Hinweise. Konrad Weber hat sich erpressbar gemacht, indem er Geld, das für den Bau einer deutschen Schule in Mailand bestimmt war, beiseitegeschafft hat, wofür auch immer. Als ihm aus Berlin ein schneidiger SS-Mann vor die Nase gesetzt wird, droht die Sache aufzufliegen. Weber braucht Geld, das er sich unter anderem dadurch beschafft, dass er politisch Verfolgten zu falschen Pässen verhilft. Täter oder Held?

Das Modell Judith Hermann hätte sich keine Marketingabteilung ausdenken können

„Webers Protokoll“ ist ein Gewirr von Stimmen: „Überhaupt sei er kein Held. Er mache hier nur seine Arbeit. Nein, ein Held sei er nicht und wolle das auch gar nicht werden. […] Er habe mit alldem nichts zu tun – nie etwas zu tun haben wollen.“ An anderer Stelle macht sein ehemaliger Vorgesetzter Weber darauf aufmerksam, dass nirgendwo Arbeitslager existierten, die all die Abtransportierten aufzunehmen in der Lage wären. Das leuchtet Weber ein, doch es folgt daraus nichts. Mit zunehmendem Alter leidet Weber an einer rätselhaften Erkrankung der Augen. Das mag ein etwas abgegriffenes Bild sein, doch ist es nicht als moralischer Hinweis gedacht. Moral liegt außerhalb des Romans und seiner Absichten.

Eine Figur in einer merkwürdigen Distanz zur Welt, vor allem aber zu sich selbst. Eine Mann, der unauffällig in jedem Protokoll aufzugehen in der Lage ist und sich später wünscht, das Protokoll seines eigenen Lebens möge getilgt werden. „Webers Protokoll“ ist ein manchmal sprödes und jederzeit intelligentes Buch, das sich beharrlich jeder Etikettierung entzieht, wie sein Held und wie seine Autorin auch. In ein Raster fügt sich Nora Bossong bislang nicht ein. Fest steht, dass sie mit 27 Jahren eine erwachsene Autorin ist. Zwischen Pop und Provokation sollte für eine solche immer Platz sein in der weiblichen deutschen Literaturlandschaft.