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Archiv-Artikel

Sie war unerlaubt spazieren

So genannte Ehrenmorde an meist muslimischen Frauen werden oft nicht oder milde bestraft. Die Mörder berufen sich auf die verletzte Familienehre

VON EDITH KRESTA

„Die 12-jährige Kifaja lebt in Jordanien. Als sie abends von einem Spaziergang mit Freunden durch die Nachbarschaft nach Hause kommt, stellte sie ihr wutentbrannter Vater zur Rede. Unter dem Vorwurf, sie habe die Ehre der Familie beschmutzt, schlägt er sie so lange mit einem Knüppel und Eisenketten, bis sie tot ist. Vor der Polizei sagt er später aus, er habe seine einzige Tochter töten müssen – sie sei ohne seine Erlaubnis spazieren gegangen.“

Ein Fall, den die jordanische Journalistin Rana Husseini öffentlich gemacht hat. Seit Jahren recherchiert sie solche Verbrechen in Jordanien und veröffentlicht sie in der Jordan Times. „Ehrenmorde“ finden in vielen Ländern im Verborgenen statt. Werden sie überhaupt öffentlich, ist dies bereits ein Fortschritt. Sie sind die extremste Form häuslicher Gewalt: Frauen und Mädchen werden von männlichen Familienmitgliedern getötet, weil sie beispielsweise mit einem Jungen befreundet sind, Ehebruch begangen haben, vorehelichen Geschlechtsverkehr haben, westliche Kleidung tragen oder vergewaltigt wurden. Auch wenn die Frau vergewaltigt wurde, ist der Mann entehrt. Und diese Ehre meinen die Täter nur durch den Tod der Frau wiederherstellen zu können. Wie viele Frauen Opfer solcher Verbrechen werden, ist schwer zu ermitteln. Der Weltbevölkerungsbericht der UNO aus dem Jahr 2000 schätzt ihre Zahl auf 5.000 jährlich. Verbrechen im Namen der Ehre werden vor allem in islamischen Ländern begangen. Blutrache findet man aber auch in Brasilien, Ecuador oder Italien.

In Deutschland sind Migrantinnen aus unterschiedlichen Ländern betroffen, etwa der Türkei, Pakistan oder dem Kosovo. „Besonders gefährdet sind Mädchen und junge Frauen zwischen 16 und 25 Jahren“, weiß Myria Böhmecke von Terre des Femmes. „Denn in dieser Zeit stellen sie eine besondere ‚Gefahr‘ für die Familienehre dar: Männer könnten Gefallen an ihnen finden, deshalb sind sie besonders stark zu überwachen und Verstöße gegen die geschlechtsspezifischen Normen sofort zu ahnden.“ Vielfach werden Ehrverbrechen ausschließlich der muslimischen Bevölkerung zugeschrieben. Auch von einigen wird der Koran als Legitimation herangezogen, um Ehrverbrechen zu rechtfertigen. „Der Koran liefert keine Grundlage für die Legitimation von Ehrverbrechen“, sagt Böhmecke. „An keiner Stelle wird aufgefordert, Frauen im Namen der Ehre umzubringen.“ Die Tatsache, dass in Deutschland insbesondere muslimische MigrantInnen betroffen sind, hängt damit zusammen, dass in diesen Familien häufig noch eine sehr traditionelle Familienstruktur existiert.

Genaue Zahlen gibt es nicht. Allein in Berlin fanden jedoch 2002 laut einer Umfrage 230 Zwangsheiraten statt. Die Dunkelziffer ist allerdings sehr viel höher, weil sich die wenigsten Migrantinnen trauen, gegen den Zwang zu rebellieren. „Die meisten haben Angst vor den Konsequenzen. Denn wenn sich ein Mädchen oder eine Frau weigert, eine Zwangsehe einzugehen, haben sie mit Strafen zu rechnen, die von psychischer über physische Gewalt bis hin zum so genannten Ehrenmord gehen“, sagt Myria Böhmecke. Terre des Femmes fordert daher eine Untersuchung, in welchem Maße solche Verbrechen in Deutschland begangen werden. „Erst wenn das Ausmaß dieser Taten bekannt ist, können geeignete Präventionsmaßnahmen erarbeitet werden“, weiß Böhmecke.

Der Mord ist das drastischste Verbrechen im Namen der Ehre, dazu gehören aber auch Misshandlung, Unterdrückung und das Verstoßen einer Frau. Diese Art von Gewalt reflektiert den niederen Status der Frau in der Gesellschaft. Die männlichen Täter hingegen gehen in vielen islamischen Ländern nach wie vor straffrei aus. Die grausame Sitte wird geduldet, auch von staatlicher Seite. Die Familienehre wird oft als das höchstes Gut angesehen, und ihre Sühnung ist Familiensache, in die sich kein Außenstehender einzumischen hat.

In vielen Fällen wird der Mord an einer Frau, die von einem männlichen Verwandten wegen Verletzung der Familienehre getötet wurde, nach dem Strafgesetz geringer bestraft als andere Morde. Auch in Brasilien können Männer, die ihre Frauen aus Untreue ermorden, immer noch freigesprochen werden, auch wenn nach starkem Druck durch Frauenorganisationen dieser Teil aus dem Strafgesetz gestrichen wurde. Klauseln zur Verteidigung der Ehre finden sich auch in den Strafgesetzbüchern von Peru, Bangladesch, Argentinien, Ecuador, Ägypten, Guatemala, Iran, Israel, Jordanien, Syrien, Libanon, der Türkei, dem Westjordanland, Venezuela, dem Irak, Tunesien, Libyen, Algerien und Kuwait. In der Regel müssen drei Umstände erfüllt sein, um den Tatbestand „Ehrenmord“ zu rechtfertigen: eine familiäre Beziehung zwischen Opfer und Täter (Vater, Sohn, Ehemann), das Ertappen der Frau bei ihrer Tat sowie die Ausübung der Straftat im Affekt. Das Strafgesetz spiegelt in diesem Sinne nicht die Wirklichkeit des Ehrbegriffs wider. Die Ehre gilt meist auch als verletzt, wenn eine Voraussetzung nicht zutrifft. In der Realität ist die Auslegung dieser Klauseln ohnehin sehr großzügig, sodass die Männer meist straffrei oder mit geringen Haftstrafen davonkommen.

Selbst in Deutschland argumentieren Anwälte mit dem kulturellen Hintergrund der Täter, wenn diese wegen tätlicher Übergriffe auf ihre Frauen angeklagt sind. In einigen Ländern wie Syrien und Pakistan existieren spezielle Gesetze, die den Täter im Namen der Ehre gering oder gar nicht bestrafen, wenn er glaubhaft machen kann, das Verbrechen diene der Wiederherstellung der Familienehre.