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Archiv-Artikel

Reduktion des Menschen

Auf einem Sockel kann man nicht leben. Aber leben sollen sie auch nicht, sondern höchst kunstvoll sterben, die Krieger und Königinnen in Luk Percevals „Andromache“ an der Schaubühne in Berlin

Ist der ganze Krieg, das ganze Wüten, wirklich eine Frage der ungestillten Liebe?

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Alles wird knapp, nur Scherben gibt es im Überfluss. Unzählige Glasscherben von zerschlagenen Flaschen bilden dicht gestreut das grün schillernde Meer, das die Gefangenen auf dem Felsen nicht entkommen lässt. Lange, bevor der Text beginnt, setzt dieses Bühnenbild von Annette Kurz schon einen Strom von Assoziationen frei. Die fünf da oben sind auf einem Altar Geopferte ebenso wie auf den Sockel der Verehrung Erhobene. Sie leben in der dünnen Luft der Kunst. Jeder Schritt darüber hinaus führt über die Scherben und würde ihre Füße zerschneiden.

Alles ist knapp da oben: Die Sprache, in der die beiden Brüder Luk und Peter Perceval die Tragödie der „Andromache“ nach Racine bearbeitet haben, lebt von ungeheuer kurzen Sätzen. Schnörkellos und ohne Umwege beharren die Worte auf Benennung der Fakten: „Hast du meinen Mann ermordet“, fragt Andromache einmal, zweimal und Pyrrhus antwortet „Ja, ich hab Hector ermordet.“ Kein Verstecken hinter irgendwas, kein Ausweichen zur Seite.

Genauso eng beschnitten ist der Raum, der kaum Bewegungen zulässt, nur ein langsames Arrangieren der Körper, die so immer mehr und mehr einer skulpturalen Installation gleichen, einem steinernen Fries wie am Pergamon-Altar. Die Tragödie wird ausgestellt wie eine Geschichte aus der Zeit, als man alles, was man erzählen wollte, noch in Stein meißeln musste. Kann sein, dass die Bilder sich seitdem beschleunigt haben. Aber die Stoffe, auf die es ankommt, so legt Percevals Inszenierung nahe, finden wir alle schon dort.

„Andromache“ reduziert den Menschen auf Liebe, Hass und Todesfurcht. Andromache (Jutta Lampe) ist die Gefangene des Pyrrhus (Mark Waschke), Beute aus dem Trojanischen Krieg. Er will ihre Liebe und versucht als letztes Mittel Erpressung. Denn noch schützt er ihren Sohn, deren Herausgabe die Griechen, an deren Seite er gegen Troja gekämpft hat, fordern. Gespiegelt wird dieser Versuch, Liebe zu erzwingen, gleich zweifach: von Hermione (Yvon Jansen), die Pyrrhus will und nicht bekommt, und Orest (Ronald Kukulies), der Hermione will und nicht bekommt. Sie alle verketten ihre Leiber auf dem Sockel da oben wie von den Schlangen des Laokoon gebunden. Jeder versucht es mit Macht, Kalkül, Drohung und Intrige.

Nur Andromache nicht. Sie müsste, um Pyrrhus zu lieben und ihren Sohn zu retten, die Vergangenheit vergessen. Die Vergangenheit steht hinter jeder der Figuren mit einer Kette von Morden und Versprechen der Rache. Sie ist die stärkste Fessel in diesem ganzen Gefängnis. Um sie zu zerschlagen, müsste tatsächlich Andromache, die Einzige, die bisher nicht zu den Tätern gehört, alles vergessen und verzeihen. Das ist die Bedingung für den Anfang des Neuen. Sie kann es nicht, und es zu verlangen scheint die grausamste von allen Forderungen, die Pyrrhus stellt.

In diesem Moment der Tragödie aber liegt ganz dicht unter der Oberfläche einer der brennendsten Konflikte der Gegenwart: Wie eine Gesellschaft aus dem Krieg herausfinden kann. Auf welcher Basis der Rache oder des Vergessens sie sich zu etablieren sucht. Dieses geschichtsphilosophische Problem funkelt wie ein Rohdiamant in „Andromache“. Bearbeitet wird er nicht.

Denn Luk Perceval konzentriert sich auf die Instinkte. Die Suche nach der „totalen Leidenschaft“, der „totalen Liebe“ – darauf will er die Figuren reduzieren, und das gelingt ihm. Alles weitere hat er in einem Interview zum Stück als sekundären Effekt dieses Verlangens beschrieben. „Ich will aber vielmehr zeigen, dass wir nicht so sehr versuchen sollen, Systeme zu analysieren, um zu verstehen, was mit uns passiert … Letztlich sind alle diese Systeme, diese gesellschaftlichen Formen, Produkte unseres eigenen Geistes.“

So ist zwar ein starkes und in seiner Konzentration auf die Zerstörungskraft der Gefühle auch beeindruckendes Stück entstanden, das zudem ganz anders, als man von der bisherigen Handschrift Percevals erwartet, auch der Geschichte der Kunst eine respektvolle Referenz erweist. Aber unbefriedigend bleibt das dennoch: der ganze Krieg, das ganze Wüten, eine Frage der ungestillten Liebe?

Schon vor der Premiere aber stand fest, dass man in diese Inszenierung gehen wird, um zu sehen, wie Jutta Lampe, jahrzehntelang das zarteste Argument, die Berliner Schaubühne zu lieben, nun mit der nachfolgenden Generation zurechtkommt. Man hat sich, gewissermaßen und nicht so ganz offen, auf den Generationskonflikt gefreut und das Blass-Aussehen der jungen Wilden neben der zurückgekehrten Königin.

Aber dieser Konflikt fällt aus, und das wird dem Haus bestimmt übel genommen. Andromache und ihre Feinde spielen, als hätten sie es alle von ihr gelernt, wie man die Pfeile der Sprache schärft und abschickt, knapp und sachlich. Kein Schnickschnack auf dieser Insel.