Vom Sinn des Lesens
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Noch ist sie nicht gebannt, die Drohung, den Hamburger Öffentlichen Bücherhallen in den nächsten zwei Jahren 900.000 Euro unter anderem durch Zweigstellen-Schließungen zu nehmen. Aber noch sind auch die Kulturschaffenden nicht zum Schweigen gebracht. Wortführerin heute: Ursula Keller, Programmleiterin des Literaturhauses.

„Was das Lesen angeht, so ist es für mich ein unverzichtbares Vergnügen, jedes Mal wieder in fremde Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelten einzutauchen und mich selbst dabei ein kleines Stück zu ver-rücken. Zu den lebenswichtigen Dingen, die man durch Lesen lernen kann, gehört für mich die Fähigkeit, sich einzufühlen in die Gedanken und Erfahrungen anderer – eine zentrale gesellschaftliche Kompetenz, ohne die Zusammenleben nicht funktionieren kann.

Darüber hinaus lernt man durch Lektüre literarischer Texte, allen scheinbar kompakten Wahrheiten zu misstrauen – was bekanntlich den kritischen Zeitgenossen kennzeichnet. Man entdeckt das Vergnügen, sich auch den ernsten Dingen des Lebens spielerisch zu nähern. Nur so entstehen Phantasie, Kreativität, der Stoff für Visionen. Und da Lektüre immer auch ein Zusammenspiel ist, ist sie ein Spiel, das Autor und Leser nur gemeinsam spielen können. Und bei dem man lernt, die Schönheit und Musikalität von Sprache zu genießen. Man macht also lesend Erfahrungen mit Dingen, die das Buch selbst gar nicht zum Thema macht.

Und um das Lob des Lesens komplett zu machen, möchte ich den wunderbaren Autor Pascal Mercier zitieren, der sagt: „Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“ Den Rest, die unausgeschöpften Möglichkeiten des Ich, würde ich ihm antworten, lebt man probeweise in den Büchern. Man lebt in der Imagination aus, was sonst verkümmern würde und sieht neben dem, was ist, auch das, was sein könnte.

Dabei ergibt sich der Zugang zu all dem natürlich nicht von selbst: Es ist dringend nötig, Kinder sehr früh an Bücher heranzuführen: Ich weiß nicht, wie es heute um meine LeseLust bestellt wäre, wenn ich nicht als Kind schon Geschichten in drei Sprachen erzählt bekommen hätte, und wenn mich meine Mutter nicht alle 14 Tage in die Leihbücherei geschickt hätte, um Bücher für uns alle zu holen.

Die war übrigens gleich um die Ecke – ein weiterer wichtiger Faktor gerade für Kinder; Lesestoff muss leicht zugänglich sein, in allen Stadtteilen. Denn eine Bücherei gehört zu den Grundbedürfnissen – wie der Supermarkt, das Café oder die Tank(!)stelle um die Ecke. Für leidenschaftliche Leser ist Lesen wie Atmen. Hoffen wir, dass unsrer Gesellschaft nicht die Luft ausgeht.

Protokoll: Petra Schellen