piwik no script img

Archiv-Artikel

Altwerden in der Fremde

Der Umgang mit Krankheit und Tod ist für viele Migranten schwierig. Das Informationszentrum für ältere, demenziell erkrankte Migranten (Idem) in Berlin gibt deren Angehörigen Hilfestellungen

VON SUSANNE AMANN

Es sind nur die Augen, die bei Serap Aydogan verraten, dass die Kindheit noch nicht so lange her ist. Sie gucken immer noch ein bisschen überrascht, als ob sie es nicht ganz fassen könnten, dass sie schneller erwachsen werden musste als geplant. Und dass ihr Rücken schon wehtut wie bei einer alten Frau. Denn Serap ist erst neunzehn, aber sie pflegt seit zwei Jahren ihre kranke Mutter. Die kann nicht mehr allein laufen, essen oder schlafen, nicht mehr allein leben, seit ihre Alzheimer-Krankeit sich nach dem Tod des Mannes akut verschlechtert hat.

Seit zwei Jahren wäscht Serap ihre Mutter, füttert sie, hebt sie hoch. Deshalb hat sie einen kaputten Rücken, aber dafür keinen Schulabschluss.

Dass es jetzt jemanden gibt, der sich um die 19-Jährige kümmert, liegt an Derya Wrobel. Die gebürtige Türkin leitet seit Mai das Informationszentrum für ältere, demenziell erkrankte Migranten und ihre Angehörigen (Idem) in Berlin, das vom Sozialverband Berlin-Brandenburg (VdK) getragen wird. Seit Oktober bietet die studierte Sozialarbeiterin auch einen sechstägigen Kurs für Angehörige an, der über Demenzen im Allgemeinen informiert, aber auch ganz praktische Tipps zu Pflege, Sozialleistungen oder medizinischer Versorgung bietet.

Die spezielle Beratung ist dringend nötig. Denn der Umgang mit Krankheit und Tod ist für viele Migranten schwierig. „Das sind nicht nur sprachliche Barrieren, die sich auftun“, sagt Wrobel, „sondern vor allem kulturelle Unterschiede, die zu ganz konkreten Problemen führen.“

Das fängt damit an, dass Angehörige beim Arzt die Probleme aus Scham nicht ansprechen, sich die Krankheiten ihrer Angehörigen nicht eingestehen oder etwa Körperpflege ein Tabuthema ist.

Dazu kommen aber auch ganz handfeste soziale Probleme: Denn die Pflegeversicherung ist meist unbekannt. Die Versorgung wird deshalb in der Regel ehrenamtlich von der Familie geleistet.

So auch im Fall von Serap Aydogan: Sie wusste nicht, dass ihre Mutter nicht nur Anspruch auf Sozialhilfe, sondern auch auf Pflegegeld hat. Und auf Sachleistungen wie etwa eine Hebevorrichtung für die Badewanne. Die hätte nicht nur den kaputten Rücken der 19-Jährigen verhindert. Sie hätte ihr auch die Abende erspart, an denen ihre Mutter zu tief in die Badewanne gerutscht ist und das zierliche Mädchen sie allein nicht mehr herausbekommen hat. „Ich habe abends um zehn verzweifelt Nachbarn und Freunde angerufen, weil ich mit nicht mehr zu helfen wusste“, sagt Aydogan. Der einzige Rat für das überforderte Mädchen kam von einer Sachbearbeiterin vom Sozialamt und lautete: Schick deine Mutter doch ins Heim, wenn du es allein nicht schaffst.

„Genau für solche Fälle müssen wir dringend mehr muttersprachliche Informationsmaterialien anbieten“, sagt Giyasettin Sayan, migrationspolitischer Sprecher der PDS-Fraktion. Denn auch wenn Kranken- und Pflegekassen den Bedarf noch nicht sehen, die Situation ist eindeutig: Es gibt in Berlin rund 30.000 Migranten, die älter als 45 Jahre sind. Aufgrund ihrer Erwerbsbiografie haben sie in der Regel eine deutlich kürzere Lebenserwartung. „Die werden in absehbarer Zeit zu Pflegefällen“, so Sayan. Er fordert deshalb, mehr muttersprachliches Personal auszubilden und einen besonderen Schwerpunkt auf die kulturspezifischen Unterschiede zu legen.

„Altwerden wird in jeder Kultur anders erlebt“, sagt Derya Wrobel. Sie zweifelt deshalb nicht daran, dass der Bedarf an kulturspezifischer Pflege immer notwendiger wird. „Viele aus der ersten Einwanderergeneration haben davon geträumt, nach dem Ende ihres Arbeitslebens in ihre Heimat zurückzukehren“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Aber die Realität passt manchmal nicht zu den Träumen: Die Kinder und Enkel der Betroffenen wollen nicht mehr zurück in eine Heimat, die nicht mehr ihre ist.

Und auch die bessere medizinische Versorgung ist ein Grund, dass sich viele schweren Herzens für das Hierbleiben entscheiden – und damit auch für das Altwerden in der Fremde.