SPD UND GEWERKSCHAFTEN BEERDIGEN DEN MINDESTLOHN : Abgrund an Unaufrichtigkeit
Manchmal ist die Sprache der Politiker noch schöner als die der Diplomaten. Beim Mindestlohn haben sich SPD und Gewerkschaften jetzt darauf verständigt, „verschiedene Modelle“ weiter „zu prüfen“. Das heißt: Das Thema ist gestorben.
Das kleinlaute Geständnis beendet eine Debatte, die selbst für die Verhältnisse der Berliner Republik ungewohnt realitätsfremd und verlogen war. Just jene Akteure, die am lautesten nach einem gesetzlichen Mindestlohn riefen, hatten daran das geringste Interesse. Die SPD, deren Chef Franz Müntefering die aktuelle Diskussion erst angestoßen hatte, will es sich mit der Wirtschaft nicht verderben. Und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, der den Vorschlag offiziell begrüßte, fürchtet in Wahrheit Konflikte in den eigenen Reihen.
So tief ist die Krise des Landes bislang nicht, als dass sich eine nennenswerte Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer einen Vorteil vom Mindestlohn versprechen könnte. Gerade in den einflussreichen Branchen Metall und Chemie wird im Durchschnitt noch immer recht ordentlich verdient. Dort kann der Blick auf einen Mindestlohn, der sich am Rand der Sozialhilfe bewegen dürfte, das Tarifgefüge nur in eine Richtung verschieben: nach unten. Hingegen sind all jene Aushilfskräfte, die zu wirklich miesen Konditionen jobben, nur selten bei einer Gewerkschaft eingeschrieben.
Dieser Zwiespalt war dem SPD-Chef natürlich nicht entgangen. Seine Offerte, über den Mindestlohn zu reden, hatte deshalb nur einen Zweck: Müntefering wollte die Gewerkschaften bloßstellen und von der Debatte über Hartz IV ablenken. Doch diesmal wäre der Taktiker beinahe selbst in die Falle gegangen, die er für Sommer und Kollegen aufgestellt hatte. Der DGB überbrückte den internen Zwist mit einem Formelkompromiss und wollte zu Münteferings Bestürzung plötzlich ernsthaft über den Mindestlohn verhandeln.
Indem sie das Thema auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, haben beide Seiten den Crash gerade noch vermieden. Sie sollten daraus lernen: In der Politik muss man nicht immer die volle Wahrheit sagen, aber ein Rest von Aufrichtigkeit dient dem eigenen Machtinteresse bisweilen mehr als dreiste Heuchelei. RALPH BOLLMANN