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Archiv-Artikel

Ich will kein Mitleid, ich will Gerechtigkeit

Pia Corvera war 9, als ihre Großmutter sie auf den Strich schickte. Der deutsche Thomas B. missbrauchte und quälte sie. Inzwischen ist sie 19 und für andere Kinderprostituierte auf den Philippinen zu einer Anwältin und einem Vorbild geworden. Sie hat ihren Peiniger ins Gefängnis gebracht

AUS OLONGAPO PHILIPP MAUSSHARDT

Ein Bild wie aus dem Reisekatalog von TUI: Kleine Fischerboote schaukeln über die Wellen, der gelbe Sandstrand schwingt sich entlang der großen Bucht, gesäumt von grünen Hügeln. Ein schöner Platz zum Sterben. Der Blick vom Friedhof von Olongapo auf den Philippinen gehört zum Schönsten, was dieser Ferienort, drei Autostunden entfernt von Manila, zu bieten hat.

Pia Corvera läuft die Treppen hinauf an den Grabsteinen vorbei und nimmt zwei Stufen auf einmal. Sie kennt den Weg wie im Schlaf und bleibt schließlich vor einem Grab stehen, dessen Inschrift schon etwas verwittert ist. „Rosaria Buluyot“ steht darauf. Das Mädchen wurde 12 Jahre alt. Gestorben an den Folgen einer Unterleibsinfektion, die sie sich in einem Bordell von Olongapo zugezogen hatte. Ein Spruch erinnert an ihr kurzes Leben: „Allein im Leben und allein im Tod. Nur beweint von denen, die das Wegwerfen von Kindern nicht hinnehmen wollen.“

Pia Corvera ist 19 und kommt häufig hierher. Die Filipina wohnt nur fünf Minuten von hier entfernt in einem Heim für ehemalige Kinderprostituierte, das der irische Pater Shay Cullen vor 29 Jahren oberhalb der Bucht gegründet hat. Will sie allein sein, zieht sie sich auf den Friedhof zurück. „Vielleicht läge ich auch irgendwo verscharrt, wenn ich Pater Shay nicht getroffen hätte“, sagt sie. Die Inschrift auf dem Grab von Rosaria ließ Shay Cullen anbringen.

Die philippinische Polizei brachte Pia Corvera vor zehn Jahren in das Heim von Shay Cullen. Sie hatte die Neunjährige in einem Hotel aufgegriffen, angekettet an ein Bett und übel zugerichtet. Der deutsche Thomas B. hatte Pia Corvera drei Tage lang missbraucht und gequält und dabei gefilmt. Den Kinderporno wollte er nach seiner Rückkehr in Deutschland verkaufen. Bei seiner Verhaftung fühlte sich Thomas B. unschuldig.

Er habe doch dafür bezahlt.

Wenn Pia Corvera heute an diese Tage zurückdenkt, verfliegt jede Fröhlichkeit aus ihrem jungenhaften Gesicht. Dann kommt wieder hoch, was sie unter einem schweren Deckel aufbewahrt. Dann sieht sie sich zusammengekauert im Kofferraum eines Autos liegend, von ihrem Zuhälter hineingezwängt und erst in der Tiefgarage eines Hotels wieder herausgezerrt. Die Kunden, meist Europäer und Australier, warteten schon im Zimmer auf ihre „Bestellung“. Alles musste heimlich geschehen, denn Sex mit Kindern war und ist auf den Philippinen mit hohen Strafen bedroht.

Das wusste natürlich auch Pias Großmutter. Aber die alte Frau in Manilas Elendsviertel Malate hatte schließlich auch ihr Leben lang als Prostituierte gearbeitet, und so ein junges Ding brachte viel mehr Geld ein. Sie schickte ihre Enkelin auf den Kinderstrich.

„Zu Hause gab es eigentlich nur Geschrei und Schläge“, sagt Pia Corvera. Ihre Eltern kennt sie bis heute nicht. „Ich lebte die meiste Zeit mit anderen Kindern auf der Straße, und wir schliefen in irgendwelchen Hauseingängen oder Hinterhöfen. Wir rauchten, tranken, und das Geld dazu beschafften wir uns von den Freiern. Der Zuhälter war der Nachbar meiner Großmutter.“

„Als ich hier ankam, war Olongapo der größte Puff der Welt“, sagt der irische Pater, der inzwischen als Dauerkandidat für den Friedensnobelpreis gilt. In diesem Jahr war er schon wieder auf der Vorschlagsliste des Komitees, allein das schon eine Auszeichnung, die ihm genügt. Vor allem schützt sie ihn vor den unzähligen Feinden, die sich der streitbare Katholik in drei Jahrzehnten auf den Philippinen gemacht hat. Gern und oft erzählt Shay Cullen seinen Gästen von den Verbindungen zwischen Politik, Polizei und Sextourismus. Vergangenes Jahr musste er wohl deshalb für einige Monaten untertauchen: Ein bezahlter Zeuge hatte bei der Justiz Anzeige gegen Cullen erstattet: Er habe in seinem Heim Kinder missbraucht.

Cullen lebte, bis der falsche Zeuge entlarvt wurde, bei katholischen Schwestern in Manila. Heute lacht er über solche Versuche, ihn davon abzuhalten, abends durch die Bordelle zu streifen und minderjährigen Mädchen seine Hilfe anzubieten. 33 Kinder und Jugendliche wohnen inzwischen in seinem Heim über der Bucht von Olongapo – am längsten Pia Corvera.

Für viele der Mädchen ist Pia Corvera ein Vorbild. Nicht weil sie ein paar Jahre älter ist als die andern. Sondern weil sie es schaffte, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen. Aufgrund ihrer Aussagen wurde Thomas B. in Deutschland zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. „Ich will kein Mitleid“, sagt sie, „ich will Gerechtigkeit.“

In Japan und in Deutschland war Pia Corvera zusammen mit ihrem Beschützer Pater Shay schon eingeladen als Sprecherin gegen die Ausbeutung von Kindern. Vor einigen Monaten hat sie sich den langen, pechschwarzen Zopf abgeschnitten. Kleider und Röcke hasst sie, und bei der Frage nach eigenen Kindern schüttelt sie energisch den Kopf: „Niemals.“ Sie fühlt sich zu Mädchen hingezogen und will von gleichaltrigen Jungs nichts wissen. „Eigentlich wäre sie selbst gerne ein Junge“, sagt Maria David, ihre psychologische Betreuerin im Heim, „das ist häufig die Dynamik nach einem sexuellen Missbrauch. Viele Mädchen wollen mit Männern nichts mehr zu tun haben.“

Eigentlich wäre sie gerne Polizistin geworden: „Ich werde es niemals akzeptieren, dass man Kinder wie Ware behandelt und nach Gebrauch wegschmeißt“, sagt sie.

Doch bei ihrer Eignungsprüfung vor ein paar Monaten war Pia Corvera drei Zentimeter zu klein. Ein Meter und sechzig ist das Mindestmaß. „Ich könnte mich schwarz ärgern“, sagt sie. Und jetzt? Werde sie eben „Krankenschwester oder Programmiererin oder was weiß ich“. Sie ist enttäuscht, aber: „Am Wichtigsten ist mir, dass ich eine Art Anwältin für all die Kinder bin, die als Prostituierte in der Welt missbraucht werden.“

Dann entschuldigt sie sich, sie muss noch telefonieren. Sie spricht in ihr Mobiltelefon. „Hallo, Oma, ich melde mich jetzt ein paar Tage nicht, man hat mich nach Deutschland in eine Fernsehsendung eingeladen.“ Pause.

„Ja, und dir auch.“

War das etwa diese Oma?

Pia nickt. „Ich habe ihr verziehen.“