sturm auf arztpraxen : Hysterische Kranke
Noch nie war Berlin so krank wie in diesen Tagen, werden doch die Arztpraxen regelrecht gestürmt. Weil ab dem kommenden Jahr jejeder Patient, jede Patientin 10 Euro Untersuchungszuschlag pro Quartal draufzuzahlen hat, muss jetzt die neue Brille her, egal ob das aktuelle Gestell noch Gucci-tauglich ist. Internisten dürfen alles noch mal auf Herz und Niere checken, damit die Influenza 2004 im Zaum gehalten wird. Und Zähne werden poliert, Lücken gefüllt und geschliffen, ganz gleich, ob man in der Vergangenheit die regelmäßige Vorsorge hat verstreichen lassen. Berlin ist im Gesundheitswahn, auf Hamsterjagd nach Arzneimitteln und Blutdruckmessung – um der Kasse noch mal eins auszuwischen?
Kommentar von ROLF LAUTENSCHLÄGER
Niemand sagt, zehn Euro seien ein Klacks. Im Gegenteil, wir Patienten zahlen für die Versorgung drauf – auch wenn Frau Dr. Schmidt und Assistenzarzt Dr. Seehofer uns was anderes erzählen wollen. Dass dennoch jetzt scheinbar kranke Heerscharen die Praxen für wirklich Bedürftige blockieren, dass vor dem Silvesterknall täglich tausende sich drei, vier Stunden die Zeit in Wartezimmern totschlagen wegen eines Aspirins und etwas mehr, dass sogar Freizeit für zerfledderte Bunte-Heftchen-lesen geopfert wird, bestürzt doch.
Es ist eine Hysterie los in Berlins Wartezimmern, quasi Winterschlussverkauf-Stimmung bei Ärzten und Krankheiten, Blödheit im Krankenkassenstaat. Die Schnäppchenjagd auf das Rezept hat außer den oben geschilderten Nebenwirkungen noch einen anderen Effekt: Sie ist kein Protest, sondern nur Protese, an der die Pharmaindustrie verdient. Die Kassen entlastet das nicht, gesünder wird niemand davon, der schon gesund ist. Und das Motto, dass die eigene Verantwortung für den Körper noch immer das Beste ist, verkommt im Anti-10-Euro-Irrsinn. Wo ist die Pille dagegen?
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