: Naturgemäß ein Klassiker
Den Leser in ein richtiges Grauen hineintreiben: Mit den Romanen „Frost“ und „Verstörung“ sowie einem Kurzprosa-Band sind die ersten drei Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe erschienen
VON JAN SÜSELBECK
„Wann wird ein Autor kanonisch?“, fragte sich der Berliner Literaturwissenschaftler Hartmut Eggert vor Jahren anlässlich eines internationalen Berliner Symposiums zu Thomas Bernhard. Die Frage dürfte für einen Schriftsteller spätestens dann beantwortet sein, wenn renommierte Germanisten beginnen, seine gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag zu edieren. Herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, sind mittlerweile drei Bände der geplanten 22-teiligen Thomas-Bernhard-Werkausgabe erschienen.
Allein ihr äußeres, vornehm schlichtes Erscheinungsbild soll demonstrieren: Thomas Bernhard, ein Klassiker der Moderne, mindestens. Auf der Frontseite des weißen Einbands prangt Bernhards blutrote Unterschrift zwischen Titel und Bandzahl – ganz so, als solle sie die Letztgültigkeit eines weltliterarischen Lebenswerks beglaubigen.
„Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“ heißt eine der frühen Erzählungen Bernhards. Wer einen ersten Blick in die neue Ausgabe wirft, könnte sich das auch fragen. Denn dort steht zu lesen, sie werde von der „Republik Österreich, Bundeskanzleramt, gefördert“. Hatte Bernhard nicht in seinem berühmten Testament zwei Tage vor seinem Tod am 12. Februar 1989 notarisch festhalten lassen, dass er mit dem „österreichischen Staat“ nichts zu tun haben wolle? Er verwahre sich, betonte Bernhard, „nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und meine Arbeit betreffend in aller Zukunft“.
„Naturgemäß“ ging dieser letzte Wunsch nicht in Erfüllung. Denn „kanonisch“ zu werden hat seinen Preis. Seinem uneingeschränkten Hass auf den Staat und den öffentlichen Kulturbetrieb zum Trotz scheint Bernhard dem posthumen Ruhm, der ihm heute dafür zuteil wird, insgeheim auch gar nicht so abhold gewesen zu sein, wie er oftmals lautstark betonte. Zumindest legen dies die bedachtsam formulierten editorischen Kommentare der Herausgeber nahe, die sich in den Anhängen der Bände „Frost“, „Verstörung“ und „Kurzprosa“ finden.
„Frost“, 1963 als Erstlingsroman scheinbar aus dem Nichts heraus als großer Überraschungserfolg im Insel Verlag erschienen, wurde von Bernhard schon vorab gegenüber seinem Lektor Wieland Schmied als Geniestreich inszeniert. Der kaum bekannte, bis dahin nur als mäßiger Lyriker in Erscheinung getretene Autor kündigte Schmied lässig an, binnen vier Wochen einen Roman zu schreiben. Nach sieben Wochen lag das Manuskript in Frankfurt am Main vor. Die mittlerweile gesichteten Nachlassdokumente zeigen jedoch, dass Bernhard schon seit Jahren intensiv an dem Text gearbeitet hatte. Unter dem Titel „Schwarzach St. Veit“ erarbeitete er bereits 1957 eine Urfassung des späteren Erfolgsdebüts, die er 1960 für veröffentlichungswürdig hielt und dem S. Fischer Verlag erfolglos anbot. 1962 scheiterte Bernhard abermals: auch Siegfried Unselds Suhrkamp Verlag winkte ab. Die damalige Version des Romans hieß „Der Wald auf der Straße“. Auch wenn eine nachträgliche handschriftliche Notiz Bernhards auf dem Titelblatt dieses Typoskripts angibt, es handele sich um ein „Aufgeblasenes Nix!“, weisen die Herausgeber doch nach, „daß ihm das Manuskript damals buchstäblich ‚alles‘ bedeutet hat“.
Bernhard war ein Schwerstarbeiter im Textbergwerk. Diverse faksimilierte Typoskriptseiten im Anhang von „Frost“ demonstrieren die geradezu gestische Impulsivität, mit der er Streichungen vornahm. Ständige Kürzungen, Umarbeitungen und Einarbeitungen heterogener Textkonvolute prägten seine berserkerhafte Produktion, die bis in den körperlichen Habitus hinein manifest wurde. So berichtet Bernhards langjähriger Freund Karl Ignaz Hennetmair in seinem notariell versiegelten Tagebuch (Salzburg 2000), weniger robuste Schreibmaschinen seien unter dem Gewitter lautstarker Bernhard’scher Tipp-Exzesse regelmäßig binnen kürzester Frist zu Bruch gegangen.
Auch der 1967 mit zweijähriger Verspätung bei Suhrkamp erschienene Roman „Verstörung“ belegt durch seine nun nachlesbare Entstehungsgeschichte, mit welchen spitzbübischen Selbstmystifizierungen Bernhard bereits früh versuchte, Einfluss auf die Wahrnehmung seiner Autorschaft zu nehmen. Bernhard hatte von Unseld bereits 1965 einen großzügigen Vorschuss für den geplanten Text mit dem vorläufigen Titel „Die Ruhe“ erhalten, musste seinen Verleger aber bis 1967 mehrmals vertrösten. Das hielt ihn nicht davon ab, auf die zuletzt als Vorlage zum Druck abgelieferte Textfassung den handschriftlich Vermerk zu setzen: „Einsperrung von / 23.IX. – 1.XI. 1966 / Bruxelles / Rue de la Croix 60 / II / (Alex u. Liesl Uexküll) / mit dem Blick auf das / Kloster.“
Bernhard hatte seinen zweiten Roman bei dem erwähnten befreundeten Brüsseler Ehepaar ins Reine geschrieben und versuchte nun den Eindruck zu erwecken, er habe sich dort wie einer seiner misanthropischen Helden in eine extreme genialische Klausur begeben, in der er innerhalb weniger Wochen ein veritables Meisterwerk schuf. Tatsächlich erscheint auch dieser berühmte Roman nach neuesten Erkenntnissen „als Ergebnis eines gewaltigen Reduktionsprozesses, in dessen Verlauf aus der Fülle zusammengetragener Stoffe und Motive einige wenige blieben“. Im Wesentlichen sei „Verstörung“ das Resultat eines „Kraftaktes“ gewesen, in dessen „Verlauf zwei heterogene Prosakomplexe miteinander verschmolzen wurden“, erläutern die Herausgeber.
Huber und Schmidt-Dengler belegen zudem, dass sich Bernhard der schriftstellerischen Schwierigkeit seiner Anstrengungen von Anfang an bewusst war und ein klares erzählerisches Ziel vor Augen hatte. Am 24. Oktober 1966 schrieb er an seinen „Lebensmenschen“, die 37 Jahre ältere Hedwig Stavianicek, die erhellende Selbstinterpretation des Romans: „Es ist ein unheimliches Buch, das wie eine klassische Erzählung anfängt und den Leser ins Grauen hineintreibt, ohne dass er es merkt. […] Mein ursprüngliches Thema habe ich in 2 Jahren zutode gedacht.“
In „Verstörung“ taucht ein zurückgezogener Industrieller auf, der diese Feststellung Bernhards noch einmal literarisch doppelt. Tief im Wald zu Hauenstein schreibt der Mann an einer sinistren philosophischen Studie, die er so lange überarbeiten will, bis zuletzt möglicherweise „nur ein einziger Gedanke übrig“ bleibe. „Wenn ich auch alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, vernichtet habe“, heißt es im Roman, „habe ich doch die größten Fortschritte gemacht.“
Diese Geschichte hat poetologische Relevanz für Bernhards Werk. Zeigen die Herausgeber doch auf, dass der Autor im Schaffensprozess mehrere Texte „trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinungsform wie ein System kommunizierender Gefäße“ zu verbinden wusste. Die Genese von „Verstörung“ verlangte also eine vertrackte Collage- und Kürzungsarbeit, deren langwierige Durchführung Bernhard vorausschauend und ökonomisch durchkalkuliert hatte. So ließ er den Verlag bereits am 30. November 1965 in einem Brief wissen: „Je mehr Anläufe, desto besser.“ Nicht nur aufgrund der umsichtigen Kommentierung der Herausgeber ist der Auftakt der Thomas-Bernhard-Werkausgabe geglückt. Sie bietet mit dem vorgezogenen Band 14, der Erzählungen und Kurzprosa Bernhards aus den frühesten Werkphasen bis zu den Achtzigerjahren zusammenstellt, auch viel neuen Lesestoff. Hier finden sich erstmals Texte, die bisher nur wenigen glücklichen Sammlern zugänglich waren und teilweise nicht einmal in wissenschaftlichen Werkverzeichnissen auftauchten. Die noch idyllisch und epigonal anmutenden Erzählungen der Fünfzigerjahre wollte Bernhard selbst zeitlebens nicht noch einmal veröffentlicht sehen. Um jedoch den Weg aufzuhellen, der ihn von dort mitten in das Pantheon der modernen Literatur führte, haben sich die Editoren über dieses Dekret hinweggesetzt – nicht zuletzt aus philologischer Sicht ein nachvollziehbarer Entschluss.
Man darf jetzt also noch einmal ganz neu lesen – und genießen. So ist der einst entlegen publizierte Text „Wiedersehen“ (1982), in dem der falschsentimentale „Hochgebirgswahnsinn“ der bergsteigenden Eltern des Erzählers seine wohl endgültige literarische Zersetzung erfährt, ein Paradestück heimatfeindlichen Humors. Derartige erzählerische Höhepunkte verleiten dazu, Peter Handkes zeitgenössisches Erlebnis der „Verstörung“ aufleben zu lassen: „Ich las und las und las.“
Thomas Bernhard: Werke in 22 Bänden, herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Suhrkamp Verlag 2003, Band 1: „Frost“, 380 Seiten, 34,90 €, Band 2: „Verstörung“ 2003. 250 Seiten, 29,90 €, Band 14: Kurzprosa, herausgegeben von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer, 320 Seiten, 39,90 €