Hoher Anspruch, schnöde Praxis

Die Verhandlungen um den „Reformkompromiss“ waren zäh. Erst die nächtliche Klausur von Regierung und Opposition brachte den Durchbruch

„Wir hängen in der Steilwand. Und der Schnee peitscht“

AUS BERLIN HANNES KOCH

Um 0.30 Uhr in der Nacht zum Montag wird Henning Scherf ausgesperrt. Der Bremer Bürgermeister und Vorsitzende des Vermittlungsausschusses – offiziell der Herr über das Verfahren – hat nichts mehr zu sagen. Er setzt sich zwischen die Regierungsmitarbeiter in den Korridor, während im Saal die entscheidenden Punkte verhandelt werden. Scherf (SPD) wird ein Teller mit Obst gebracht, er stellt ihn auf seine Knie, halbiert eine Kiwi und schenkt der Redakteurin des ZDF eine Mandarine.

Der Vermittlungsausschuss, das Schlichtungsgremium zwischen Bundestag und Bundesrat, tagt nun schon seit Sonntagnachmittag. Sechs, sieben Stunden lang hat sich nicht viel bewegt. Die zentrale Frage, ob es die vorgezogene Steuerreform à la Rot-Grün geben wird, ist nach wie vor offen. Deshalb müssen jetzt wieder die Chefs allein ran – ohne Henning Scherf und das ganze Fussvolk. In Klausur gehen Bundeskanzler Gerhard Schröder, NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück (beide SPD) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne). Die Union bietet CDU-Chefin Angela Merkel und Bayerns CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber auf. Auch dabei: FDP-Chef Guido Westerwelle.

Vor 100 Journalisten und 15 Kamerateams in der engen Lobby des Berliner Bundesrats erklärt CSU-Politiker Erwin Huber derweil, was drinnen gespielt wird. Die unionsregierten Bundesländer wollen einen finanziellen Ausgleich von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD), damit die vorgezogene Steuerreform keine Löcher in ihre Kassen reißt. Ihre neueste Idee: Der Bund solle ihnen zusätzlich 2,5 Prozent aller Einnahmen aus der Mehrwertsteuer überweisen.

So sind sie, diese Verhandlungen: hoch die Ansprüche, schnöde die Praxis. Was war vorher die Rede von „Erneuerung für das 21. Jahrhundert“ (SPD) und „Strukturreformen“ (Union)! Jetzt geht es darum, ob die Bundesländer 1 oder 2 Milliarden Euro mehr bekommen. Das ist der Kern, dem alles andere unterzuordnen die Union bereit ist – die Lockerung der Tarifverträge, den Abbau von Subventionen, die Modernisierung des Handwerksrechts. Bei der SPD sieht es nicht viel besser aus. Dort steht die Steuersenkung ganz oben auf der Prioritätenliste.

Die Mehrwertsteuer-Forderung der Union trägt nicht zur Entspannung der Atmosphäre bei. „Wir hängen in der Steilwand. Der Schnee peitscht“, transportiert der auf Alpenmotive spezialisierte SPD-Informator und Fraktionsvize Ludwig Stiegler Nachrichten nach draußen in die Lobby. Drinnen empört sich die Bundesregierung: Man habe bereits genug angeboten, 5 Milliarden Euro Erlöse aus Privatisierungen von Staatsbeteiligungen, davon die Hälfte für die Länder. Auch sei man bereit, der Union entgegenzukommen und die notwendige Neuverschuldung geringer ausfallen zu lassen.

So droht an diesem Punkt auch das Chefgespräch zu blockieren. Doch dann zahlt sich aus, dass CDU-Chefin Merkel den parteiinternen Hardliner und Ministerpräsidenten von Hessen, Roland Koch, aus dem internen Kreis ausgeschlossen hat. „Koch ist schon auf dem Weg nach Wiesbaden“, witzeln die Journalisten. Das stimmt zwar nicht, zeigt aber, was abläuft: Um die Verhandlung nicht um 2 Uhr in der Frühe scheitern zu lassen, bietet die Union einen Kompromiss an. Während Rot-Grün eine große Steuersenkung von rund 23 Milliarden Euro zum 1. Januar 2004 plante, schlagen Merkel & Co. nun vor, sie auf etwa 15 Milliarden einzudampfen. Der Charme des Vorschlags: Weil zunächst weniger Einnahmen ausfallen, müssen sich Bund und Länder auf geringere Sparmaßnahmen einigen.

Mit dieser Wendung ist die Sache geritzt. Gegen 3.30 Uhr kommen die erstaunlich frischen Matadoren aus dem Konklave und verkünden, dass sie sich durchgesetzt haben. Schröder: „Der Kompromiss geht in Ordnung.“ Merkel: „Wünschenswert, machbar, realistisch.“

Auf der Ebene der Fakten ist die Partie remis ausgegangen. Durch die abgespeckte Steuerreform hat Rot-Grün einen Teil der erhofften, aber ohnehin geringen Wachstumswirkung eingebüsst. Die Reform der Gemeindefinanzen bleibt eine halbe Sache, weil die Selbstständigen dank der Union der geplanten Steuerpflicht entkommen. Außerdem übernimmt Schröder die Lockerung des Kündigungsschutzes und der Zumutbarkeitsregeln für die Aufnahme von Arbeit. Umgekehrt muss die Union der Steuerreform zustimmen, die nicht nur Roland Koch, sondern auch einige andere Ministerpräsidenten ablehnten. Der für die Konservativen schmerzlichste Punkt freilich betrifft die Tarifautonomie. Da gibt es nur „weiße Salbe“, wie FDP-Politiker Dirk Niebel sagt. Eine gemeinsame Protokollerklärung wird nur vorsehen, dass Gewerkschaften und Unternehmer binnen einem Jahr die Tarifverträge flexibler gestalten sollen. Doch die Fakten sind nur die eine Seite. Politpsychologisch steht Bundeskanzler Gerhard Schröder jetzt besser da als die Opposition. Er hat die Steuerreform bekommen und braucht die Tarifautonomie nicht zu opfern.

Als die Chefs sich in ihre Dienstwohnungen kutschieren lassen, beginnt für das Fußvolk eine weitere Runde der Mühsal. Arbeitsgruppen tagen bis Montagmorgen um 6 Uhr. Diese Eile ist notwendig, weil am kommenden Freitag das gesamte Gesetzespaket von Bundesrat und Bundestag beschlossen werden soll. Unterschreiben wird danach Bundespräsident Johannes Rau, der extra über die Feiertage in Berlin bleibt. Damit das alles klappt, muss spätestens heute um 17 Uhr noch einmal der Vermittlungsausschuss über die fertigen Texte beraten. Dann hat Henning Scherf wieder etwas zu tun, viel zu sagen aber noch immer nicht.