WARUM SCHRÖDER KEINE MEHRHEIT BRAUCHT UND SIE TROTZDEM WILL : Das Kostüm der Macht
Morgen wird der Bundestag die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses durchwinken – und zwar mit einer DDR-mäßigen Mehrheit. Diese Reformen haben zwei Aspekte: einen positiven und einen negativen. Erfreulich ist, dass der Vermittlungsausschuss nicht an reiner Machttaktik gescheitert ist. Es gibt in der Gesellschaft und den Parteien eine Mehrheit für diese Reformen. Der Vermittlungsausschuss hat gezeigt, dass das politische System in der Lage ist, dieser Mehrheit, die von den rechten Grünen über die Merkel-CDU bis zur FDP und CSU reicht, zu ihrem Ausdruck zu verhelfen.
Unerfreulich ist der Inhalt der Reformen. Was morgen beschlossen wird, ist mehr als eine unvermeidliche Reparatur des Sozialstaates. Es geht nicht mehr um dessen Umbau, es geht um den Abbau. Kein Detail ist für sich genommen skandalös – aber die Richtung ist klar. Am Ende steht der Ausstieg aus der bundesdeutschen Konsensgesellschaft, die materiell darauf fußte, dass Ober- und Mittelschicht die Unterschicht alimentieren. Es geht um den Einstieg in eine andere, härtere und egoistischere Republik, in der der soziale Friede – bislang Kern der Konsensrepublik – unter Finanzierungsvorbehalt gestellt wird.
Bei SPD und Grünen gibt es eine Hand voll Abgeordnete, denen diese Richtung nicht passt. So wollen einige in einzelnen Punkten, wie der Verpflichtung von Langzeitarbeitslosen, Billigjobs anzunehmen, dagegen stimmen. Auch dieser Punkt wird trotzdem mit Honecker-Mehrheit verabschiedet werden. Doch Schröder und Müntefering reicht das nicht. Sie wollen offenbar eine rot-grüne Mehrheit erpressen – das hat ja schon mal gut geklappt.
Dieses Disziplinierungsmanöver ist falsch, überflüssig und kontraproduktiv.Und was ist ein Parlament wert, in dem die relevante Minderheit der Gesellschaft in einer Grundsatzentscheidung aus Machttaktik nicht repräsentiert werden darf? Offenbar lässt sich die SPD-Spitze dabei von Roland Koch in diesen Konflikt treiben – obwohl es ein nahe liegendes Gebot politischer Weisheit ist, Kochs Krawallschachtelrhetorik zu ignorieren.
Hinzu kommt, dass Schröder mit dieser Erpressung nichts gewinnt. Denn eigentlich müsste es in seinem Interesse sein, dass Rot-Grün seinen arg gestutzten linken Flügel nicht ganz verliert. Die SPD liegt nicht wegen ihrer Linken bei 25 Prozent – sondern wegen Schröders Kurs. Klug wäre es, der Opposition in den eigenen Reihen, wenn nicht Macht, so doch eine Stimme zu lassen. Doch Schröder will sie knebeln. Das ist das Kostüm der Macht: Schwäche, die sich als Stärke tarnt. Dahinter steckt meistens nackte Panik. STEFAN REINECKE