taz-Adventskalender (7): Ofenluke im Krematorium Ruhleben
: Wie durch den Schlund der Hölle

Stehen Sie auf fade Schokotäfelchen? Wir auch nicht. Die Türen des taz-Adventskalenders verbergen anderes: geheime Schätze und wilde Tiere. Sex and Crime. Letzte Dinge. Bis Weihnachten öffnen wir täglich eine Tür – auf einem Kalender namens Berlin.

Auf der Schiene vor der Eisenklappe steht ein heller Holzsarg und wartet auf Abfertigung. Wie von Geisterhand öffnet sich die Luke und gibt den Blick in eine rot glühende Röhre frei. So ungefähr muss der Schlund der Hölle aussehen. Lautlos gleitet der Sarg in das Inferno. Die Tür schließt sich wieder. Eine Stunde und 15 Minuten werden vergehen, bis sie sich wieder öffnet, um den nächsten Leichnam in Empfang zu nehmen.

75 Prozent aller Bestattungen in Berlin sind Urnenbeisetzungen. „Kaum jemand weiß, was in einem Krematorium wirklich passiert“, sagt der Betriebsleiter des Krematoriums Ruhleben, Peter Vogel. „Es werden wahre Horrormärchen erzählt.“ Legende eins: Der Tote bäume sich in den Flammen noch einmal auf. „Definitiv falsch“, sagt Vogel. „Die Leiche steht nicht noch mal auf.“ Legende zwei: Die Asche in der Urne sei nicht die des Verstorbenen. Blödsinn, sagt Vogel. Die Öfen seien so angelegt, dass nichts vermischt werden könne. „Niemand muss Angst haben, die falsche Asche zu betrauern.“ Legende drei: In den Sarg mitgegebener Schmuck werde geklaut, den Toten gar die Goldzähne gezogen. Verleumdung, sagt Vogel. Er garantiere dafür, dass dem nicht so sei.

Die vier Öfen des Krematoriums Ruhleben werden von sechs so genannten Verbrennern im Schichtbetrieb mittels Gaszufuhr auf 750 bis 1.000 Grad Hitze gehalten. Früher wurden in Ruhleben 11.000 Leichen im Jahr eingeäschert, inzwischen sind es lediglich noch 8.000 – durchschnittlich 45 Leichen pro Tag. Die Verbrenner fahren die Särge von den Kühlkammern zu den Öfen und überwachen den Verbrennungsvorgang durch ein Fenster in der Rückwand der Brennkammer. Erst brennt der Sarg ab. Der Körper braucht länger. „Der Anblick ist nicht so schlimm wie der einer Leiche“, sagt der 47-jährige Verbrenner Mario Hoppe. „Man sieht nur noch das Skelett und nicht mehr den Menschen.“

Ob der Tote bei der Einäscherung unbedingt ein Leichenhemd brauche und in einem Sarg liegen müsse, wird Betriebsleiter Vogel immer wieder gefragt. „Manche Angehörige versuchen, an allem zu sparen. Die Entsorgungsmentalität greift um sich.“ Der zunehmende Leichentourismus nach Brandenburg, Polen und Tschechien gehört dazu. Dort ist die Einäscherung billiger zu haben als zu den in Berlin üblichen 218 Euro. 50 Prozent der Urnenbeisetzungen erfolgen in Berlin mittlerweile annoym. Trauerfeiern finden in weniger als 7 Prozent der Fälle statt.

Das einzig Feuerfeste ist das Skelett. Die Gebeine werden vom Verbrenner in einem Mahlwerk zerkleinert, bevor die Überreste in die Urne kommen. „Die Asche wiegt im Durchschnitt zweieinhalb bis drei Kilo, je nach Knochenbau“, weiß Hoppe.

Als er den Job vor 22 Jahren begann, hat er während der Arbeit keinen Bissen heruntergebracht. Inzwischen ist Routine eingekehrt. Aber eines geht ihm jedes Mal furchtbar nahe: wenn er einen Kindersarg zum Ofen schieben muss. PLUTONIA PLARRE

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