: Hoch die Tür!
Sechsmal deutsche Weihnacht
VON MARTIN GONSMANN
Der Vater ist Witwer und hatte im Leben keine andere Idee, als im Alter von seinen Kindern umgeben zu sein. Eigentlich hat er sich nie für Kinder interessiert, weder für fremde noch für seine eigenen. Oder wenn doch, dann nur, wenn sie seinen eigenen Interessen nicht im Weg standen.
Er wird den Heiligen Abend allein verbringen, denn keines seiner Kinder will bei ihm sein. Der eine Sohn baut am Haus und hat keine Zeit, der andere verbringt die Zeit der Bescherung bei den Eltern seiner Frau. Der nächste Sohn will auch lieber bei seiner neuen Familie bleiben, wobei er zur Sicherheit noch zusätzlich betont, er sei seit seinem lebensbedrohenden Verkehrsunfall nicht mehr fähig, winters länger als hundert Kilometer am Stück zu fahren. Des Vaters Tochter steht am familiären Abend aller Abende im Examensstress.
Und ich, ich will ihn nicht besuchen. Einfach so. Ich mag ihn nicht, an dem Tag schon gar nicht. Man weiß nie, ob er wieder so übellaunig wird wie einst, so mürrisch und unberechenbar, dass es keine Freude macht, mit ihm seine Zeit zu verbringen.
Ich will lieber allein bleiben. Singlealleinsein heißt doch konsequent, dass man sich an Heiligabend auch nicht mit Freunden beim Essen tröstet. Das wäre nur die halbe Wahrheit, viel lieber hätte ich selbst gern Familie, aber die habe ich nicht. Also allein. Im vollen Bewusstsein. Ohne den Vorsatz, mich voll laufen zu lassen. Bar eines Essens, das Lust schon beim Kochen verspricht. Schöner ist es, zu lesen, Videos zu schauen und Musik zu hören. Irgendwas, was nicht Stress verheißt.
Das ist wie mit dem Schlafen: ungern, sehr ungern allein, aber doch um Himmels willen nicht mit einer x-beliebigen Person. Es wird ein wenig traurig werden, aber aufrichtig, weil das Vermisste morgen, vielleicht, schon neu beginnen kann. Weihnachten ist die Zeit der Besinnung. In eigener Sache. Schön, das.
VON ERNST TORCK
Unsere Kleine hat rot verweinte Augen, dies ist nicht ihr Tag. Dabei ist heute Adventsfeier in der Kita, und Mama und Papa sind nur deshalb früher von der Arbeit gekommen.
„Geht die erste Kerze an“ heißt das Lied, das wir Eltern mit den rund zwanzig Kindern singen müssen. Adina, unsere Tochter, beteiligt sich mit einem, wohlwollend interpretiert, „Mamamama“. Dafür isst sie viel, das war ihr schon immer das Wichtigste. Alle singen schief mit, es ist grauenhaft, und eigentlich ist dies sowieso nicht Adinas Feier: Was soll sie als Jüdin schon mit Advent anfangen, der Zeit der Besinnung auf die Geburt des Stifters einer, okay, abtrünnigen jüdischen Sekte?
Meine Frau ist konvertiert zum Judentum. Ein Jahr lang haben orthodoxe Rabbiner sie mit Tests getriezt und geprüft, ehe sie eine Tochter des Volks Israel wurde. Ihre Religion ist ihr wichtig, aber Gott sei Dank hält sie sich an so gut wie keine Regeln. Bis auf Adina hat meine Frau niemanden in ihrer Familie, mit dem sie Chanukka, das jüdische Lichterfest, feiern könnte. Weihnachten schon. Chanukka fällt dieses Jahr ziemlich genau in die Weihnachtszeit. Adina ist Jüdin, weil ihre Mutter Jüdin ist, so will es das halachische Gesetz.
Was für eine Familie! Hinzu kommt, dass wir in diesem Jahr erstmals in Berlin bleiben, statt zu den Weihnachtsbäumen unserer Eltern zu fahren. Wir wollen zusammen sein, um – tja was? – irgendwas zu feiern. Nur was? Ich könnte, wie die Großeltern von Adina, einen Weihnachtsbaum kaufen – aber nur mir würde er etwas bedeuten.
So werden wir wohl Chanukka-Kerzen anzünden, und ihr Glanz wird sich in den Äuglein unserer Tochter spiegeln. Schenken werden wir ihr auch etwas. Aber das ist eh ziemlich wurscht. Kleidung ist Adina egal, Spielzeug fliegt meist nach zehn Minuten in die Ecke, fürs Erste. Nur Essen kommt hundert Pro gut an. Und koscher muss es ja nicht unbedingt sein.
VON GEORG PAULI
Weihnachten ist schwierig. An den übrigen Tagen im Jahr können sich meine Exfrau und ich recht gut über die Kinder einigen; ab und an gibt es Nervereien, aber wann die Kinder bei wem sind, das kriegen wir meistens ganz gut geregelt. Aber an Weihnachten klappt das nicht richtig.
Der Grund ist schlicht der: Der Termin ist emotional zu stark aufgeladen. Bisher hatte ich ja gedacht, es sei vor allem meine Exfrau, die da zu viel Druck hineinbringe. Inzwischen muss ich aber erkennen, dass von mir selbst mindestens ebenso viel Druck kommt. Weihnachten – das ist der Punkt – ist ein Familienfest. Wir sind aber keine Familie mehr. Es ist nicht so leicht, das an diesem Tag zusammenzubringen.
Seit früher Jugend haben sowohl meine Exfrau als auch ich eine Diskrepanz verspürt zwischen dem Wunsch unserer Eltern, an Weihnachten heile Familie zu spielen, und den tatsächlichen Problemen innerhalb unserer Familien. Dass wir es selbst nun nicht geschafft haben, eine heile Familie zu sein, empfinden wir beide an Weihnachten als Versagen. Immerhin kann man sich zugute halten, dass man die Probleme im Gegensatz zu den eigenen Eltern nicht mehr verleugnet. Aber das Familienthema insgesamt tiefer zu hängen und die Dinge, wie sie nun mal sind, pragmatisch anzugehen, das ist an Weihnachten eben schwierig. Sogar: überraschend schwierig.
Heiligabend also sind die Kinder bei meiner Exfrau, ihr Freund wird auch dabei sein. Kurz war angedacht, dass auch ich und meine Freundin mitfeiern könnten. Aber meine Freundin kann, wie sie sagte, ihre eigenen Eltern nicht im Stich lassen. Und überhaupt wäre die Konstruktion wohl ein ziemlicher Eiertanz geworden: Bloß jetzt nichts Falsches sagen!
Ich werde Heiligabend allein in meiner Wohnung sein. Zu meiner Mutter und meinen Geschwistern zu fahren und mit ihnen zu feiern, das würde ich als endgültiges Eingeständnis einer Niederlage begreifen. Zu den Eltern meiner neuen Freundin möchte ich auch nicht. Kann sein, dass auch der Wunsch nach Selbstbestrafung eine Rolle spielt; Ich war es, der sich getrennt hat. Aber vielleicht ist so ein einsames Weihnachten auch gar nicht so schlecht. Ich habe vor, mir zur Sicherheit vorher einige DVDs auszuleihen, guten Rotwein dazuhaben, und möglicherweise funktioniert Sushi als Weihnachtsessen ja auch ganz gut. Außerdem wollte ich immer schon mal „Madame Bovary“ zum zweiten Mal lesen; das kann ich nun zwischen den Jahren tun. Ganz ohne Festvorbereitungs- und Festnachbereitungsstress.
Ab dem zweiten Weihnachtstag kommen die Kinder dann für drei Tage zu mir. Sie werden mit leuchtenden Augen von ihren Geschenken erzählen, und dann, so stelle ich es mir vor, werden wir uns ein paar schöne Tage machen.
Vielleicht also wird letztendlich an Weihnachten doch alles ganz gut klappen. Aber nächstes Jahr wird es vorher sicher wieder schwierig werden.
VON HITTI USLU
Weihnachten ist für mich vor allem Erholung – Freunde besuchen, gemeinsam kochen, und vor allem: viel Zeit mit meinem Freund verbringen, der dann endlich mal keinen Dienst hat. Meine Familie sehe ich an den Feiertagen gar nicht. Meine Mutter ist in der Türkei geboren, und deshalb haben wir zu Hause nie Weihnachten gefeiert. Heiligabend ist bei uns ein ganz normaler Tag – Jesus ist bei Muslimen schließlich nur so eine Art Nebenprophet, nicht halb so wichtig wie Mohammed.
Als Kinder haben meine Geschwister und ich uns trotzdem immer auf Weihnachten gefreut: Dann war die ganze Familie zu Hause, alles war gemütlich, wir haben Kekse gebacken und gemeinsam vor den Weihnachtsfilmen gesessen. Geschenke haben wir immer an Silvester bekommen – das ist bei vielen Türken, die ich kenne, Brauch.
Religion spielt in unserer Familie keine Rolle: Meine Mutter trägt kein Kopftuch, und wir mussten auch nie zum Islamunterricht oder in die Moschee. Wenn ich selber mal Kinder habe, möchte ich ganz klassisch Weihnachten feiern. Damit sie sich nicht so ausgeschlossen fühlen wie ich früher. In Deutschland feiert einfach jeder Weihnachten – selbst die, die eigentlich keine Lust darauf haben und sich permanent über den Stress beklagen. Wenn du da nicht mitmachst, kommst du dir schon seltsam vor. Leider ist Weihnachten hier ein total abgeschirmtes Fest – jede Familie feiert für sich. Und wenn meine Freunde damals Bescherung hatten, saß ich allein zu Hause. In der Türkei ist das anders: Wenn Türken mit der Familie feiern, bringen alle ihre Freunde mit.
Inzwischen habe ich mich aber dem Weihnachtsdiktat gebeugt. Sogar einen Tannenbaum haben mein Freund und ich dieses Jahr angeschafft. Nicht als Symbol, eher als eine Art Accessoire, das die Wohnung behaglich macht. Überhaupt geht es mir vor allem um die schöne Stimmung. Deshalb freue ich mich auch auf den Heiligabend: Da werde ich mit meinem Freund und seiner Familie feiern, mit seinen kleinen Nichten und Neffen: das ganze Programm – essen, Tannenbäumchen und Bescherung. Nur in die Kirche gehen wir nicht.
VON SARA HOFMANN
Weihnachten ist für mich das Felsentuch. Meine Großmutter hat es hergestellt, 1939, im ersten Jahr ihrer Ehe. Eigentlich wollte sie gar nicht heiraten, erzählt sie mir immer. Sie habe doch ihre Freiheit so geliebt. Ihren Beruf, ihre Freundinnen, ihre Hobbys. Ja gesagt habe sie nur unter Druck, weil ihr Freund mit Liebesentzug drohte, und erst mit 34, „das ist noch jung genug“.
Das Felsentuch war eine der ersten Amtshandlungen der jungen Ehe. Für die Herstellung des Gebirges, auf dem das Jesuskind meiner Großmutter geboren wird, hat sie Farbpigmente auf ein nasses Betttuch gestreut, das Ganze mit Leim beschmiert, ordentlich verknittert und trocknen lassen.
Ich weiß nicht, ob meine Oma sich bei ihrem ersten Heiligabend mit ihrem Ehemann – ohne ihre Eltern und ihre sieben Schwestern – richtig wohl gefühlt hat. Ich weiß aber, dass das Felsentuch dabei war. Das Tuch, sagt sie, wird immer zu Weihnachten ausgebreitet, egal was kommt. Als sie ausgebombt waren, da hat sie es mitgenommen und eben woanders ausgelegt. Sowohl mein Großvater als auch mein Onkel sind zur Weihnachtszeit verstorben. Doch auch in diesen Jahren wurden am Felsentuch Gedichte aufgesagt.
Weihnachten, das sind feste Abläufe: Zuerst trinken alle, die alt genug sind, Sekt, dann singen wir an der Felsentuchkrippe „Menschen, die ihr wart verloren“ und meine Mutter sagt: „Das war das Lieblingslied meines Vaters.“ Meine Großmutter, die das schon seit Jahren nicht mehr hört, sagt: „Das war das Lieblingslied von eurem Vater.“ Danach singen wir „Stille Nacht“, aber nach der ersten Strophe weiß keiner mehr weiter. Zeit für die Herbergsuche. Meine Mutter singt, mein Onkel donnert. Früher hat meine Tante dann immer gesagt: „Ihr singt das nicht richtig“, danach haben sich alle gestritten.
Im Lauf der Jahre haben wir durch Tod und Streit eine ganze Menge Felsentuchsinger eingebüßt. Meine Tante spricht nicht mehr mit uns, und ihre Familie feiert Weihnachten jetzt ohne Felsentuch. Seitdem haben meine Cousins keine Gelegenheit mehr, mir und meinen Schwestern klar zu machen, dass wir nur Mistgeschenke bekommen und Langweiler sind. Sie müssen auch nicht mehr ihren Brechreiz unterdrücken, da sie ja ihre Buletten nicht mehr von den schmierigen Tellern einer über Neunzigjährigen essen müssen.
Seit sie nicht mehr dabei sind, ist das Fest richtig schön. Das liegt vielleicht an meiner Großmutter und ihrer nicht enden wollenden Begeisterung für das Leben im Allgemeinen und Weihnachten im Besonderen. Im Grunde ist unser Weihnachtsfest wie unsere ganze Familie längst in Verfall begriffen – „das letzte Kapitel der Buddenbrooks“, sagt ein Cousin meiner Mutter immer. Meine Schwester hat bereits eine eigene Familie und wird wohl bald auf uns verzichten. Unser Fest hat im Lauf der Jahre einen immer morbideren Charme bekommen. Es ist brüchig. Irgendwann, vielleicht schon bald, wird es sich ganz auflösen. Wie das Felsentuch.
VON TATJANA SCHNEIDER
An Weihnachten sind zwei Paar Eltern super. An Weihnachten genießen mein Bruder und ich die Privilegien von Scheidungskindern: Wir kriegen die doppelte Bescherung, das doppelte Weihnachtsessen, und vor allem müssen wir uns keine Gedanken darüber machen, Heiligabend allein zu sein.
Viele Freunde beneiden uns darum. Ihre Eltern fliegen neuerdings auf die Kanaren, wo es im Winter doch so toll sein soll, oder sie laden ihren gesamten Bekanntenkreis ein, weil sie Weihnachten mit der Familie spießig finden. Und unsere Freunde? Die tanzen im Klub gegen ihre Einsamkeit an.
Unsere Eltern sind weihnachtskonservativ. Weihnachten in unserer Familie ist so kuschelig warm und zuverlässig wie der alte Benz von meinem Opa. Der Heiligabend unterliegt einem festen Ritual. Der Baum ist rot-golden, und Mama schmückt ihn mit der Präzision eines verliebten Beamten. Erst läuft die alte Weihnachtsplatte und später Adriano Celentano – warum, weiß keiner mehr so genau.
Unser Programm steht, seit Mama bei Papa ausgezogen ist: mittags Hasenpfeffer, „Alle Jahre wieder“ und Geschenke bei Papa, abends Käsefondue, „Azzurro“ und Geschenke bei Mama. Zwischendurch Zimtsterne und Vanillekipferln in rauen Mengen. Am Ende beherrscht uns das entspannende Gefühl, durch die Feiertage zu rollen.
Seit Oma tot ist, rollen wir auch zu Opa. Denn Opa braucht Menschen, für die er singen und dichten und kochen kann. Sein Kugelbauch, an den er uns immer drückt, ist schon um die Hälfte geschrumpft. Opa langweilt sich, er ist allein, und außerdem möchte er Sex.
Opa ist 86 und der Meinung, das kann noch nicht alles gewesen sein. Neulich hat er eine Anzeige aufgegeben und musste erkennen, dass Frauen oberflächlich sind: Rosi, Martha und Elfriede – sie alle fanden Opa zu klein. Opa sagt, er rüste jetzt auf. Letzte Woche war er beim Friseur, und zu Weihnachten hat er sich Hemden gewünscht. Ich habe sein Geschenk bei Rossmann erstanden: Opa bekommt einen Nasenhaartrimmer, batteriebetrieben und für schlappe zwei neunundneunzig. Und gedrückt wird er auch.