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Archiv-Artikel

Die geteilte Erinnerung

Görlitz und Zgorzelec sind auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze ein Zentrum der Vertriebenen

AUS GÖRLITZ UND ZGORZELECUWE RADA

Vom Schlesischen Museum in Görlitz ist die Staatsministerin für Kultur, Christina Weiss, richtig begeistert: „In einer Vitrine sind Schlüssel ausgestellt. An Haken hängen sie, bündelweise. Die Schlüssel passen in kein Schloss mehr, erinnern im Museum an den Heimatverlust in der Folge eines verbrecherischen Krieges, der in das Land zurückschlug, von dem er ausgegangen war.“

Doch das Schlesische Museum, meint Weiss, zeigt auch, dass es eine Chance zur Versöhnung gibt: Dann nämlich, „wenn es gelingt, mit unseren Nachbarn gemeinsam die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu schließen“. Kein Berliner „Zentrum gegen Vertreibung“ brauchten die Deutschen deshalb, sondern eine europäische Lösung.

Mit dieser Forderung weiß sich die deutsche Staatsministerin einig mit dem früheren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski. Bartoszewski nannte auch gleich einen Standort für ein solch europäisches Zentrum gegen Vertreibung: die deutsch-polnische Stadt Görlitz und Zgorzelec.

Ein Zentrum der Vertriebenen ist die Neißestadt, aus der nach dem Krieg das deutsche Görlitz und das polnische Zgorzelec wurde, in der Tat. In der Hoffnung, bald wieder nach Schlesien zurückkehren zu können, machten nicht nur Flüchtlinge, sondern Vertriebene in Görlitz Halt. Binnen kürzester Zeit wuchs die Einwohnerzahl am westlichen Neißeufer auf über 100.000. Vor dem Krieg hatte Görlitz 93.800 Einwohner gehabt, auf beiden Seiten der Neiße.

Görlitz wurde zur heimlichen Hauptstadt der Vertriebenen. Während der Anteil der Vertriebenen in der DDR 1949 knapp ein Viertel betrug, lag er in Görlitz bei 37,5 Prozent. Auch nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR blieb das Thema virulent. Während des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 war in Görlitz immer wieder die Revision der Grenze gefordert worden.

Was viele Görlitzer nicht wissen: Auch Zgorzelec war nach dem Krieg ein Zentrum der Vertriebenen. Nach der Westverschiebung der polnischen Grenze waren es vor allem Vertriebene aus Ostpolen, die in die ehemals deutschen Gebiete umgesiedelt wurden. So wurde Görlitz nicht nur zu einer geteilten Stadt, sondern auch zu einer Stadt mit unterschiedlichen Erinnerungen. Während für die Görlitzer das Thema Vertreibung im Vordergrund stand, war es in Zgorzelec die Furcht, dass die Deutschen eines Tages zurückkehren.

Die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, von denen Christina Weiss spricht, betreffen aber nicht nur das mangelhafte Wissen um das Schicksal derer, die es auf das jeweils andere Neißeufer verschlagen hat. „Lücken gibt es auch in der eigenen Erinnerungskultur“, sagt Urszula Zubrzycki. Wie viele ihrer Generation hat sich die 35-jährige polnische Lehrerin nach der Wende auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit gemacht, hat die Geschichte der Region studiert, die von Görlitz, ihrer „kleinen Heimat“, wie sie es nennt. „Wenn ich mit meinen Schülern durch Görlitz gehe, sagte ich ihnen, dass das auch ihre Stadt ist, dass die Geschichte von Zgorzelec auch die von Görlitz ist.“

Geschichten wie diese hört man in Görlitz gerne. Geschichten wie diese braucht man auch, wenn die 1998 proklamierte „Europastadt Görlitz/Zgorzelec“ im Jahre 2010 tatsächlich europäische Kulturhauptstadt werden will. Schließlich ist die Lage an der Grenze neben dem grandiosen Stadtbild das Pfund, mit dem man gegenüber den Mitbewerbern wuchern kann. Und zugleich ist sie die größte Bürde. Denn aus der europäischen Identität, die die Stadtoberen ihren Bürgern verordnet haben, ist noch immer keine gemeinsame Erinnerungskultur geworden. Und manchmal kommt es sogar dazu, dass alte Wunden wieder aufbrechen.

Urzula Zubrzycki hat es zu spüren bekommen. Auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Werkstatt Europa“ hatte sie im „Salon“ in Zgorzelec zusammen mit ihrem Ehemann ein neues Projekt vorgestellt, das Zgorzelecer „Museum der Lausitz“. „Schließlich“, erklärt Urszula Zubrzycki, „wissen die wenigsten Görlitzer, dass Görlitz und Zgorzelec zur Oberlausitz gehören, dass es eine sorbische Kultur auch in Zgorzelec gab.“

Die Reaktionen der Görlitzer ließen nicht lange auf sich warten. „Warum ausgerechnet ein Lausitzmuseum?“, fragte eine ältere Frau bei der Vorstellung des Projekts. „Warum unterstützen sie uns nicht dabei, Görlitz und Zgorzelec als niederschlesische Stadt bekannt zu machen?“ Ein anderer Kritiker befürchtete beim Stichwort Sorben gar, dass es den Zubrzyckis darum gehe, die alte Ideologie der „wiedergewonnenen Gebiete“ zu beleben, jenes slawischen Stammlandes also, in das die Polen 1945 nicht als Neusiedler kamen, sondern als Rückkehrer.

Dass sich am Namen eines Museums ein Streit um regionale Identität entzünden kann, wundert Kazimierz Wóycicki nicht. Der Zeithistoriker und Leiter des Polnischen Instituts in Leipzig hat in Görlitz und Zgorzelec mit dem „Görlitzer Mittwoch“ eine deutsch-polnische Gesprächsreihe initiiert, die inzwischen ihr Stammpublikum gefunden hat. „Auf diesen Veranstaltungen ging es bislang immer sehr diplomatisch zu. Jeder hat sich bemüht, den anderen zu verstehen. Doch auf den Nachhauseweg“, sagt Wóycicki lächelnd, „da haben die Deutschen über die Polen geschimpft und die Polen über die Deutschen.“

Wenn Wóycicki von Erinnerungskultur spricht, dann deshalb immer im Plural. Dass die Görlitzer nach der Wende ihre schlesische Vergangenheit entdeckt haben, ist für ihn ebenso Teil einer Suchbewegung wie die Entdeckung der deutschen Vergangenheit auf der polnischen Seite, einer Vergangenheit, die lange Zeit tabu war. „Auf beiden Seiten sind diese neuen Erinnerungskulturen Teil einer kollektiven Geschichtserzählung und Identitätsfindung“, sagt Wóycicki. „Ein Problem taucht erst dann auf, wenn man wie hier an der Grenze diese Suche gemeinsam unternehmen will.“

„Getrennte Nachkriegsgeschichten“ nennt Wóycicki deshalb die geteilte Erinnerung in Görlitz und Zgorzelec. Die beschäftigt inzwischen auch die Museumsexperten in Görlitz. Mitte Dezember waren sie im Görlitzer Apollo-Theater zusammengekommen, um zusammen mit den Zubrzyckis über die Erinnerungskulturen zu diskutieren. Mit einem Lausitzmuseum habe er keine Probleme, erklärt Jasper von Richthofen, der Direktor des Kulturhistorischen Museums in Görlitz. Entscheidend sei aber, welche Zeit ausgestellt werde. „Die Geschichte der Lausitz beginnt nicht erst mit dem Beginn der Piastenherrschaft und sie hört auch mit ihrem Ende nicht auf.“ Die Schlesienfans erinnerte von Richthofen daran, dass Görlitz erst 1815 Teil der zu Schlesien gehörenden preußischen Provinz Oberlausitz wurde.

„Entscheidend ist doch“, versucht Tobias Weger vom Schlesischen Museum zu vermitteln, „welchen Zugang zur Erinnerung man wählt, einen ethnischen oder einen regionalen.“ Doch auch der regionale Charakter des Schlesischen Museums, ergänzte Jasper von Richthofen, habe nicht verhindern können, dass dieses Museum für viele Polen noch immer eine Provokation sei.

Die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts existieren noch immer, gerade in einer Doppelstadt wie Görlitz und Zgorzelec, in der nicht nur die biografischen Erinnerungen aufeinander prallen, sondern auch die nationalen Erinnerungskulturen. Für Kazimierz Wóycicki ist es deshalb umso wichtiger, „die Konflikte auszutragen, damit wir eines Tages nicht aus einem bösen Traum aufwachen und feststellen, dass wir alles andere sind, nur keine Europastadt“.

Die Befürchtungen sind berechtigt. Als im Sommer die Bewerbung zur Kulturhauptstadt im Zgorzelecer „Dom Kultury“ gefeiert wurde, gab es eine Schlägerei zwischen deutschen und polnischen Jugendlichen. Und das ausgerechnet vor jenem Gebäude, das die geteilten Erinnerungen wie kaum ein anderes verkörpert. In der ehemaligen „Oberlausitzer Gedenkhalle“ war, bevor sie zum Sitz eines Kulturhauses wurde, am 6. Juli 1950 der Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen unterschrieben worden.