Lass dich doch erinnern

Der „Arbeitskreis Shoa“ wirbt mit einer Plakat-Kampagne gegen das Vergessen des Holocaust – und für sich. Ansprechen soll sie vor allem junge Menschen. Mit Sprüchen, die schon mal Tabus brechen

VON PHILIPP GESSLER

Es gibt ein Bilderverbot im Film, ein unausgesprochenes, freiwilliges – wenn dies nicht ein Widerspruch in sich ist: Man zeigt nicht, was in den Gaskammern passierte. Obwohl die Wissenschaft darüber Aussagen machen kann, schreckliche, fast schmerzhafte. Die Fernsehserie „Holocaust“ aus dem Jahr 1979 war trotz künstlerischer Schwächen ein, vielleicht der Durchbruch bei der Erinnerung der Deutschen an ihr Menschheitsverbrechen. Im US-Film waren nackte Menschen in Gaskammern zu sehen. „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg führte die Erwartungen der Zuschauer in die Irre, indem er tatsächlich zeigt, wie KZ-Insassen duschen beziehungsweise geduscht werden. Das Tabu blieb bewahrt, der Horror aber wurde transportiert.

Was darf man zeigen, was darf man schreiben über den Holocaust? Wo endet die Aufklärung, wo beginnt der Voyeurismus? Welche Formen muss die Erinnerung an den Holocaust heute wählen, um gerade junge Menschen noch zu erreichen? Dies sind Fragen, die sich angesichts einer Kampagne des „Arbeitskreises Shoa.de“ stellen. Diese gemeinnützige Initiative ehemaliger Studentinnen und Studenten der Geschichte gestaltet unter www.shoa.de seit 1996 ein Internet-Portal, das Informationen über den Holocaust kostenlos anbietet – 130.000 Klicks pro Monat. Ein voller Erfolg.

Nun aber startet der Arbeitskreis, unterstützt unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, eine Werbekampagne „Gegen das Vergessen“ – und für sich. Auf rund 1.800 Großplakaten und Citylights, also von hinten angestrahlten Werbefolien, auf 20.000 Postkarten und 12.500 Leporellos wird Werbung für www.shoa.de gemacht. Eine aufklärerische, gute Sache, oder?

Eigentlich schon – wenn man, vorsichtig ausgedrückt, nicht zimperlich ist. Denn auf den Citylights, die tagsüber eine fast vollständig weiße Fläche zeigen, erscheinen bei Hintergrundbestrahlung abends Zitate aus der NS-Zeit, das härteste: „Wenn wir die Gaskammern öffneten, sahen wir, dass die Menschen im Stehen gestorben waren. Einer neben dem anderen, die Köpfe geneigt.“ Es ist eine Aussage des KZ-Häftlings Henryk Mandelbaum, der in den „Sonderkommandos“ Dienst tun musste. Es waren dies die Gruppen von Lagerinsassen, die die vergasten Menschen aus den Gaskammern schleppen und verbrennen mussten. Bevor sie in der Regel selbst vergast wurden.

Die Absicht der fünf Zitate auf den Plakaten ist klar: Sie sollen „stutzig“ machen, erklärt Stefan Mannes vom Trägerverein der Kampagne, „die Zitate nehmen das auf, was Menschen zu unseren Seiten führt“. Die Zitate zum Holocaust, dem Vernichtungskrieg im Osten, der „Euthanasie“ und der gesellschaftlichen Gleichschaltung im NS-Reich sollen Bilder im Kopf entstehen lassen – und spätestens seit Hitchcock wissen wir, dass die wahren Horrorbilder nicht gezeigt werden müssen, damit sie umso zuverlässiger im Kopf entstehen.

Außerdem wissen wir, dass Werbung nicht leise säuseln, sondern heftig brüllen muss, will sie in dieser Welt der Reize noch wahrgenommen werden. Etwas Provokation soll schon sein – insofern ist die Kampagne gelungen (wie auch dieser Artikel selbst zeigt). Doch Provokationen dieses Kalibers können auch nach hinten losgehen. Ein abschreckendes Beispiel war die Plakataktion des „Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden“ der Lea Rosh vor drei Jahren. Das Mantra der Auschwitz-Leugner wurde da wiedergegeben: „den holocaust hat es nie gegeben“. Nach heftiger Kritik etwa vom Zentralrat der Juden wurde das Großplakat am Brandenburger Tor abgenommen. Ironie funktioniert nie, so heißt es.

„Wenn wir die Gaskammern öffneten …“ – ist das nun ein noch akzeptabler Tabubruch, weil er eben nichts zeigt, sondern nur erzählt? Eine gelungene Provokation, die „stutzig“ macht, wie es sich für Werbung eben gehört? Ein Anstoß für eine vertiefende Recherche zu den NS-Verbrechen unter www.shoa.de? Die Kampagne „Gegen das Vergessen“ ist nur möglich geworden, weil das südafrikanische Unternehmen Sappi die Kampagne mit 50.000 Euro unterstützt hat. Der „Arbeitskreis Shoa.de“ profitiert davon. Wahrscheinlich kommt so etwas raus, wenn sich Papierhersteller, Werbeleute und gutmeinende Menschen verbünden.

Mannes berichtete zudem, www.shoa.de erhalte jeden Tag 5 bis 10 aufmunternde E-Mails von vor allem jungen Leuten, die sich für das Internet-Angebot bedankten. Vielleicht muss man heute mehr vom europäischen Judenmord zeigen und den Horror genauer beschreiben, weil die vierte Generation nach dem Holocaust es anders nicht mehr begreift. Ist ihr das vorzuwerfen?