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Archiv-Artikel

Keine Weihnachtsgeschichte

Wer in Unna-Massen versucht, mit Spätaussiedlern über das große Fest zu sprechen, bekommt kaum Antworten. Dort hat man andere Sorgen

„Ich bin Schweißer und möchte hier gern arbeiten. Zu Hause haben sie immer Faschist zu mir gesagt.“

VON CHRISTOPH HICKMANN

Eigentlich sollte hier eine Weihnachtsgeschichte stehen. Eine sehr spezielle Weihnachtsgeschichte, eine der anderen Art, sozusagen. Es hatte eine Geschichte werden sollen über Menschen, die in einem Land voller Weihnachtsfeiern nicht Weihnachten feiern. Eine Geschichte, wie vor allem Journalisten sie mögen. Man nennt das dann den besonderen Ansatz und macht damit etwas, das nichts Besonderes mehr ist, weil man es schon oft erlebt hat, zu etwas Besonderem. Zum Beispiel Weihnachten.

Doch hier steht keine Weihnachtsgeschichte, weil etwas dazwischen gekommen ist. Es sind dazwischen gekommen die Geschichten von Tamara August, von Alexandr Petrasov und von Alexandr Walter. Es sind dazwischen gekommen ein paar Menschen, die sich vor einem Bratwurststand an den Händen gehalten haben. Es sind in Unna-Massen, westliches Westfalen, ein paar Dinge dazwischen gekommen, die es verdienen, hier erzählt zu werden. Obwohl sie nichts mit Weihnachten zu tun haben. Oder gerade deshalb.

Unna-Massen. Durchlauferhitzer für Menschen könnte man das nennen, was hier ein paar Kilometer und Kurven hinter dem Ortskern liegt, zu erreichen über eine einzige Straße: Landesstelle heißt es, ein Gelände wie eine kleine Stadt, mit ockergelben und beigefarbenen Häusern, von denen keines schön ist und die fast alle gleich aussehen. In den ockergelben und beigefarbenen Häusern gibt es Zimmer, in denen stehen Betten aus Metall, darauf liegt weißes Bettzeug. Für die, die hier neu ankommen, aus Staaten, die einmal die Sowjetunion bildeten. Für Menschen, die man Spätaussiedler nennt, deren Familie eigentlich aus Deutschland stammt und die deshalb als Deutsche, als Russlanddeutsche aufgenommen werden in ein Land, das ihnen fremd ist. Auch jüdische Emigranten machen hier Station auf der Suche nach deutscher Heimat.

Soll diese Heimat in Nord-rhein-Westfalen liegen, führt ihr Weg zwangsläufig über die Landesstelle Unna-Massen. In jedem Jahr kommen mehr als 4.000, die dann eine lange Reise hinter sich haben und wahrscheinlich eine noch längere vor sich, hinein in eine Gesellschaft, von der sie wenig wissen und die meist wenig von ihnen wissen will. Wenn sie nach drei Wochen Vorbereitung auf deutsches Leben die Landesstelle verlassen, um verteilt zu werden auf Dörfer und Städte, haben sie gelernt, was ein Sozialamt ist, was ein Arbeitsamt, wie man Kinder in der Schule anmeldet.

Unna-Massen. Weihnachtsfreie Zone, so hatte man sich den Titel vorgestellt. Ein Land feiert, in Unna-Massen feiert niemand. Weil, wer aus Kasachstan kommt oder Russland, wahrscheinlich orthodoxer Christ ist, und die feiern Weihnachten ja erst am 6. Januar. Schöne Geschichte wäre das geworden, „Weihnachten kommt später“, hätte darüber stehen können, oder „Wo Weihnachten warten kann“.

Also versucht man, mit Tamara August, 23, und sichtbar schwanger, über Weihnachten zu sprechen. Tamara August, hellbrauner Pferdeschwanz, zarte Schultern, grüne Augen, die anfangs beständig nach unten blicken, sagt über Weihnachten dies: Dass sie es jedes Jahr mit der Familie gefeiert habe. Dass sie immer einen Tannenbaum gehabt hätten. Und dass sie Weihnachten dieses Jahr in Neukirchen verbringen werde, da habe sie Verwandte. Tamara August aus Kasachstan sieht aus, als verstehe sie nicht, warum man sie danach fragt. Sie blickt sich um in dem kahlen weißen Raum, den der Dolmetscher für das Gespräch ausgesucht hat. Sie sucht nach Worten und findet keine. Nicht über Weihnachten. Warum bist du hier, Tamara? Tamara sagt: „In Kasachstan konnte ich als Dolmetscherin nicht arbeiten. Ich hoffe, es wird hier einfacher, Arbeit zu finden, für mich und meinen Mann. Mein Mann ist Bauarbeiter, und ich will versuchen, hier in zwei Jahren auf die Hochschule gehen zu können. Wir sind zusammen mit meiner Schwiegermutter und meiner Großmutter gekommen. Das Land gefällt mir, alle Leute sind sehr freundlich.“ Wenn Tamaras Kind ein Sohn wird, soll er Eugen heißen. Für eine Tochter weiß sie noch keinen Namen.

Tamara August verlässt den Raum, herein kommt Alexandr Petrasov, 28, den man ein männliches Gebirge nennen kann. Schultern spannen blaues Hemd, Oberschenkel dehnen schwarze Jeans, ein Kopf wie ein Klotz. Aus einem vernarbtem Gesicht schauen kleine dunkle Augen schamhaft schräg zur Seite. Was denkst du über Weihnachten, Alexandr? „Weihnachten ist wichtig.“ Warum? “Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.“ Dann sagt Alexandr: „Ich bin Schweißer. Ich hoffe, dass ich hier einen richtigen Beruf lernen kann. Ich will zur einheimischen Bevölkerung gehören. Ich will nicht schlechter leben als sie. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, ich gehöre nicht dazu. Dieses Gefühl hatte ich auch in Kasachstan, dort habe ich mich als Deutscher gefühlt. Meine Mutter ist in Deutschland geboren, sie ist mit mir zusammen eingereist. Vor fünf Jahren haben wir die Einreise beantragt. Meine Frau und mein Kind sind mitgekommen.“

Nachdem Alexandr Petrasov sehr schnell sehr viel gesagt hat, geht er. Zurück bleibt ein bisschen Scham. Darüber, dass man mit ihm über Weihnachten sprechen wollte. Ausgerechnet. Für einen gläubigen Menschen hätte die Frage gerade so viel bedeuten können, dass sie nicht unpassend geklungen hätte. Aber Alexandr Petrasov hat nicht über Glauben gesprochen, nicht über einen Gott, der Mensch geworden sei. Er hat versucht, über Weihnachten als das zu sprechen, was es für die meisten heute ist. Ein Fest eben, ein weltliches. Eines, das Tamara, das Alexandr genau deshalb nicht viel bedeutet in dieser Zeit. Zu wenig jedenfalls, um Worte darum zu machen.

Man hat von Tamara und Alexandr Dinge zur Antwort bekommen, von denen man sich eingestehen muss, dass man sie nicht wirklich wissen wollte. Weil sie nachdenklich machen über das hinaus, was an Nachdenklichkeit gewünscht war. Weil es eine angenehm begrenzte Nachdenklichkeit bedeutet hätte, über Menschen zu schreiben, die nicht Weihnachten feiern, während um sie herum gefeiert wird. Man hätte nicht die eigenen Maßstäbe überdenken, keine andere Geschichte schreiben müssen, über der stehen könnte „Wo Weihnachten egal ist“.

Draußen, vor Verwaltungsgebäude A, haben sie einen Grill aufgebaut. Zwei Männer mit Zangen in der Hand legen Bratwürste darauf, es riecht zu süß nach Glühwein. Drinnen im großen Saal soll gleich Weihnachten gefeiert werden, drei Stunden mit Gebeten und Klaviermusik und tanzenden Kindern. Frauen stehen dort hinter engen Holzständen und verkaufen Kuchen oder Tannengestecke oder gläserne Fensterbilder mit lächelnden Bienen. Dazwischen stehen viele Menschen, die Gesichter Richtung Bühne.

Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass sie nicht zu dritt, zu viert dort stehen. Sie bleiben zu zweit, Mann und Frau, halten sich im Arm, an den Händen, und sehen dabei aus, als gehörten sie und nur sie zusammen. Vielleicht weil hier alles fremd ist, was über diese Zweiheit hinausgeht. Manchmal steht noch ein Kind dabei oder liegt im Kinderwagen.

Auf der Bühne spricht jetzt ein Pfarrer. Er sagt: „Ja, liebe Gemeinde, nur der Glaube ist es, der Berge versetzen kann.“ Dann spricht der Mann neben ihm diesen Satz auf russisch nach. Die Menschen, die sich aneinander festhalten, schauen kaum hin. Sie reden, miteinander. Es ist laut im Saal. Es bleibt laut, als vorne Herr Kraska, der die Landesstelle leitet, sagt: “Ich möchte Ihnen sagen, es gibt eine echte Chance für Sie, in Deutschland eine neue Heimat zu finden.“ Dann sollen sie zusammen das Vaterunser beten. Der Pfarrer sagt: „Wir beten es laut in russischer und leise in deutscher Sprache.“ Jetzt redet niemand mehr. Der Pfarrer scheint allein zu beten, so still bleibt es.

Draußen steht ein Mann mit einem Gesicht, das sehr rot ist und dessen Furchen viel zu tief und zahlreich sind für einen, der 56 Jahre alt ist. Alexandr Walter aus Saratov an der Wolga schaut aus müden blauen Augen unter seiner Schiebermütze und sagt: „Meine Mutter ist Deutsche. Sie lebt schon seit zehn Jahren hier, meine Schwester und mein Bruder auch. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben, seitdem war ich allein in Russland. Als meine Frau tot war, habe ich sofort meinen Antrag gestellt. Ich bin Schweißer und möchte hier gern arbeiten. Zu Hause im Dorf haben sie immer Faschist zu mir gesagt.“

Und Weihnachten, Alexandr? Was ist mit Weihnachten? „Nu“, sagt Alexandr, „Weihnachten. Ich habe immer einen Baum aufgestellt.“ Dann raucht er und sagt nichts mehr. Er steht allein neben dem Eingang zum Saal, in dem sie jetzt ein Kinderlied singen. Er steht sehr gebeugt. Nicht wie einer, den man als Schweißer einstellen würde.