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Archiv-Artikel

Historische Lehrstunde

Der Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher Herbertus Bikker vor dem Landgericht Hagen verkommt zur Farce. Die Verteidigung plädiert auf Verhandlungsunfähigkeit und spielt auf Zeit

VON ACHIM SCHEVE

Der Prozess gegen den Nazi-Kriegsverbrecher Herbertus Bikker muss am kommenden Dienstag weiterverhandelt werden. Eine Unterbrechung von mehr als zehn Tagen ist nicht möglich. Am vergangenen Freitag war der des Mordes angeklagte gebürtige Niederländer Herbertus Bikker letztmalig mit seiner persönlichen Notärztin im Gerichtssaal erschienen. Die Verteidigung will seine Verhandlungsfähigkeit überprüfen lassen. Der Prozess war seit 5. November wegen einer Erkrankung Bikkers ausgesetzt worden.

Bikker wird vorgeworfen, im November 1944 einen holländischen Widerstandskämpfer erschossen zu haben. Bikker war Wachmann im niederländischen Lager Erika bei Ommen. In einem Stern-Interview hatte er behauptet, den holländischen Widerstandskämpfer Jan Houtmann „den Gnadenschuss“, gegeben zu haben.

Der Zeuge Wilhelm Stappenbelt wird vor Gericht zu den Vorkommnissen in Ommen befragt. Der 80-Jährige war Beamter der Gemeinde Dahlfsen. Er hat ein zweibändiges Geschichtsbuch zum Thema geschrieben: „Ommen onder Kroon en Kruis“, (Ommen unter Krone und Hakenreuz). Der Zeuge erzählt die Geschichte des Lagers Erika bei Ommen. In Friedenzeiten diente es einer internationalen religiösen Gemeinschaft. 1941 wurde das Lager von den deutschen Besatzungsbehörden beschlagnahmt – zunächst ohne Insassen. Ab 1942 wurden Gefangene aus überfüllten niederländischen Gefängnissen dort untergebracht. 1943 folgten 3.500 niederländische Studenten, die sich geweigert hatten die Loyalitätserklärung zur Nazibesatzung zu unterschreiben. Der Zeuge war anlässlich einer Verhaftungsaktion gegen Juden zwei Tage im Lager.

Herbertus Bikker war 1949 von Sondergerichtshof im niederländischen Arnheim wegen der Zusammenarbeit mit den Deutschen, Freiheitsberaubung von Niederländern und der Tötung von zwei Menschen zum Tode verurteilt worden. In einer Berufungsverhandlung in Den Haag wurde die Strafe in Lebenslang umgewandelt. 1952 floh Bikker aus dem Gefängnis und wurde kurze Zeit später in Hagen/Westfalen festgenommen.

Stappenbelt hat Herrn Bikker im Lager nicht getroffen. Er berichtet von Gefangenen, die sich ein Grab schaufeln mussten, und in Dunkelhaft untergebracht waren. In der Zelle stand soviel Wasser, dass sie sich nicht setzen oder legen konnten. Einen Tag vor der Befreiung wurden noch 117 Häftlinge erschossen. Die Nichtjuden durften in den Baracken schlafen, Juden kamen in die Zelte. Die Bevölkerung Ommens wurde durch ein so genanntes Kontroll-Kommando terrorisiert.

Stappenbelt kannte den ermordeten Herrn Houtman, er war Inhaber einer Metallwarenfabrik und Kirchgänger der niederländischen reformierten Kirche. Während des Krieges warfen die Engländer für den niederländischen Widerstand Waffen und Munition mit dem Fallschirm ab. Houtman und seine Männer haben sie für den Widerstand eingesammelt und in die Stadt Ommen gebracht. Die Staatsanwaltschaft stellt den Antrag, drei Zeugen aus den Niederlanden zu laden, um einen Beweis über den guten Leumund und Charakter des von Bikker ermordeten Jan Houtman zu erheben.

Bikker kann nur wegen Mordes an Jan Houtmann verurteilt werden. Eine Verurteilung wegen Totschlages oder anderer Delikte ist wegen Verjährung nicht möglich.

Die Vernehmung des Zeugen Stappenbelt ist beendet. Er setzt sich in den Zuschauerraum. Der Gerichtsdiener hält ihm den Zettel für die Fahrtkostenerstattung vor und sagt laut: „Damit müssen sie zu Zimmer 63“. Der Zeuge antwortet im zackigen Ton. „Jawoll, Herr General!“

Der Zeuge Hans Ket wird aufgerufen. Der 53 Jahre alte Lehrer berichtet über die Kriegserinnerungen seines Vaters. Während seiner Kindheit hatte sein Vater ihn, seinen Bruder und seine Schwester oft an besondere Orte geführt und ihm dort kleine Geschichten über die Besatzungszeit erzählt. Sein Vater war von Oktober 1944 bis März 1945 im Lager Erika bei Ommen inhaftiert. Erst nach einer Fernsehsendung von 1990 fasste er den Mut, seinen 1997 gestorbenen Vater zu fragen. Der Vater erzählte vom „Schallplattenspiel“. Gefangene wurden mit einem Arm in der Erde eingeraben und mussten sich mit ihrem Körper wie ein Schallplattenspieler drehen. Wenn sie nicht schnell genug waren, gab es Schläge und Tritte. „Die Holländer haben uns schlechter behandelt als die Deutschen.“

Das Oberlandesgericht Hamm lehnte im Jahre 1954 ein Auslieferungsersuchen der Niederlande ab. Kurze Zeit später wurde Bikker aus der Untersuchungshaft entlassen. Im November 1957 wurden die Ermittlungen gegen Bikker eingestellt. Erst nach dem Bericht des „Stern“ wurden die Ermittlungen gegen Bikker wieder aufgenommen.

Beide Zeugen wurden in deutscher Sprache befragt. Für die Wiedergabe der Gespräche zwischen Vater und Sohn wird eine Dolmetscherin benötigt. Der Zeuge berichtet, dass sein Vater 1960 anlässlich der Freilassung von drei Kriegsverbrechern aus Breda sagte, dass man diese Verbrecher aus den Niederlanden wegtreten solle. Sein Vater war im Aussendienst in der Schneiderei, er hat sich von Bikker fernhalten können. Bikker sei ein Schuft und Lump gewesen.

Bikkers persönliche Ärztin berichtet, dass sich der Zustand des Angeklagten im Laufe der Verhandlung stark verschlechtert habe. Sie beklagt, dass es im ganzen Gerichtsgebäude keinen „AOK-Chopper“ Rollstuhl gebe. Die Staatsanwaltschaft bezweifelt die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten und deutet an, Herr Bikker sei noch vor kurzem in seinem Auto gesehen worden.