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Archiv-Artikel

Durchbrennende Sicherungen

Frau Kapsreiters schwelende Träume: Anna Viebrock und Johannes Harneit richten im Berliner HAU-Theater „Ohne Leben Tod“ ein – nach Heimito von Doderer und Gustav Mahler. Vanitas-Motive treffen Antisemitismus-Anspielungen

VON EVA BEHRENDT

In einem Becher Filterkaffee steckt viel Arbeit. Jedenfalls, wenn ihn Frau Kapsreiter nach einer Nacht voller Angstträume zubereitet. Nicht nur, dass die korpulente Rentnerin dazu mehrere elektronische Geräte aus ihrem schweren Vitrinenschrank holen muss. Frau Kapsreiter mahlt außerdem ihre Bohnen stumm im Sitzen und mit einer stoischen Hingabe, die hypnotisierende Wirkung entfaltet. Oder ist es die kleine Kaffeemühle, die einen heulenden, von grausamen kleinen Knackgeräuschen durchzogenen Ton fabriziert?

Selten ist man in „Ohne Leben Tod“, dem neuen Musiktheaterabend von Anna Viebrock und Johannes Harneit am Berliner Theater Hebbel am Ufer, so rückhaltlos gebannt wie beim Frühstücksritual, das die junge Zürcher Schauspielerin Bettina Stucky ernst und knapp an der Grenze zum Slapstick exekutiert. Denn die Marthaler-Bühnenbildnerin und der Komponist, die am Schauspielhaus Zürich schon mehrfach zusammen inszenierten („In Vain“, „Die Geschwister Tanner“), haben kunstvoll ein atmosphärische Gespinst dunkler Ahnungen geknüpft, das sich für Uneingeweihte als härtere Rätselnuss erweist. Dabei geht es, allen historischen Anreicherungen zum Trotz, um durchaus zeitgenössische Schwelbrände wie Juden- und Fremdenhass – und darum, dass oft keiner löscht.

Die albträumende Frau Kapsreiter etwa entstammt Heimito von Doderers Roman „Die Dämonen“, der um den Wiener Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 kreist. Als der Antisemitismus das Land überrollte, legten die Sozialisten dieses Gegenfeuer, um den faschistenfreundlichen Freispruch mehrerer Mörder zu rächen. Bei Doderer ist eins der Opfer der 10-jährige Krächzi, den Kapsreiters Bruder Mathias Csmarits bei seiner Schwester in Obhut gibt. Bei der Gelegenheit schraubt er ihr gleich eine Feuersirene übers Bett.

Das muss man wissen, um die merkwürdigen Vorgänge auf Viebrocks Bühne halbwegs einordnen zu können, auch wenn der Raum zu verstehen gibt, dass das Klima zeitlos muffig und bedrückend ist. Im unteren, mit düsterer Tapete gemusterten, wie unter Kohlenstaub gebräunten Drittel wohnt unsere Albträumerin und notiert ihre kassandrischen Visionen im Nachtbuch; darüber erhebt sich eine kahle, geweißte Kapelle. Auf harten Holzbänken hocken dort in Alltagskluft die 14 Musiker der Sinfonietta Leipzig mit dem Rücken zum Publikum. Auch die Kapsreiter schlägt gelegentlich vor der industriellen Wandschalttafel, die hier das Kruzifix ersetzt, ihr Kreuz. Rechts, wo es in die Sakristei geht, knäult sich ein Wust von Kabeln, Klingeln, Sicherungen, das irgendwann zu qualmen beginnt.

Johannes Harneits Komposition greift derweil nicht nur mit einer rasselnden, schrillenden und mitunter nervös tickenden Schlagwerkspur das Motiv durchbrennender Sicherungen auf. Sie bezieht sich fahl melodisch vor allem auf Gustav Mahlers 4. Symphonie, in der Kinderlieder, Totenreich und Paradies unheimliche Verbindungen eingehen. Wenn am Schluss Kapsreiters Bruder Mathias Csmartis (Johannes Harneit) den Zehnjährigen aus der Wohnung in die Kapelle holt, hebt ausgerechnet Krächzi (Thomanersänger Julian Twarowski) engelsgleich den vierten Mahler-Satz zu singen an. Nach jeder Strophe bricht er zusammen, wird aber von Csmarits wieder auf die Beine gestellt.

Vielleicht sind Anna Viebrock und Johannes Harneit einfach zu viele schöne Vanitas-Motive eingefallen, als dass „Ohne Leben Tod“ wirklich in der Gegenwart ankommen könnte. Als die Sirene endlich aufheult, ist es jedenfalls zu spät.