: Betrachtungen über Bambi
Eine Million Rehe werden jedes Jahr geschossen. Oder umgefahren. Nur in Deutschland. 1.000.000.000. Ungeheuerlich, wenn man bedenkt, wie wenig Rehe man so tagsüber sieht
VON PHILIPP MAUSSHARDT
So. Der rosa gebratene Hirschkalbsrücken an Bärlauchspätzle ist verspeist, die Reste des weihnachtlichen Wildschweingulaschs sind eingefroren. Wir können uns wieder dem traurigen Alltag zuwenden und der wird noch trauriger, wenn wir uns einmal die Abschuss-Statistik des Deutschen Jagdschutz Verbandes vor Augen führen. Ein gutes Thema für die Tage „zwischen den Jahren“, an denen die meisten sowieso nicht recht wissen, was tun.
Vor einigen Wochen murmelte der bayerische Jagdverbandspräsident (der merkwürdigerweise gar kein Bayer ist) eine unglaubliche Zahl in die Runde. Zwischen einer Consommé vom Hirsch und einem Salat an Wildhasenparfait erwähnte er die Ziffer der in der vergangenen Jagdsaison abgeschossenen Rehe. Rund eine Million. Nur in Deutschland. 1.000.000.000. Eine ungeheuerliche Zahl, wenn man bedenkt, wie wenig Rehe man so tagsüber sieht. In Bremen zum Beispiel.
In Bremen, um gleich dort zu bleiben, wurde in der Jagdsaison 2002/2003 ein einziges Wildschwein erlegt. Das ist im Vergleich zum Jagdjahr 2000/2001 eine Steigerung um 100 Prozent. Höchst bedenklich also, wenn das in Bremen so weitergeht … Wohingegen in Bayern, wo, wer hätte anderes vermutet, die meisten Wildsäue wohnen, 55.265 umgenietet wurden. Oder umgefahren. Denn die deutsche Jagdstatistik unterscheidet nicht zwischen geschossenem und dem so genannten Straßenfallwild. Gefallen im heroischen Kampf gegen die Kühlerhauben.
Eine Million. Bei etwas mehr als 80 Millionen deutscher Menschen ist eine Million deutsche Rehe eine gewaltige Summe. Wo bleibt denn das ganze schöne Fleisch? Die meisten Metzger zucken doch nur mit den Schultern, fragt man sie nach einer Keule. Andere vertrösten auf nächste Woche, da käme vielleicht etwas herein. Aber im Grunde wird das Wildbret – sofern es sich nicht um tief gekühlte Aufzuchtware aus Neuseeland handelt – wie Schmugglergut unterm Ladentisch verschoben. Glücklich der Mensch, der einen Förster kennt.
Zurück zur Statistik. Auf einem Quadratkilometer Deutschland leben im Durchschnitt neun Rehe. Macht bei 357.000 Quadratkilometern rund 3,2 Millionen Rehe. Knapp ein Drittel davon wird also jedes Jahr füsiliert oder automobilisiert. Da muss einem Tierschützer doch das Bambiherz bluten. „Nein“, rufen da die bayerischen Grünen, „es sind noch viel zu viele!“
Der forstpolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion überraschte kürzlich mit seinem Aufschrei, die Jäger in den bayerischen Wäldern seien viel zu lasch und luschig. Es wird „offensichtlich nicht genug geschossen“, schimpfte er und warf dem Landwirtschaftsminister vor, sich nicht genug für Treibjagden einzusetzen. Der Minister müsse zum Schutz des Waldes stärker darauf achten, dass die Abschussquoten eingehalten würden. Denn das Reh frisst die Triebe der jungen Bäume, was zur Folge hat, dass der deutsche Wald veraltet. Wie ja auch die deutsche Gesellschaft. Rentner vor morschen Bäumen – eine fürchterliche deutsche Zukunftsvision.
Es gibt bei unseren Nachbarn zwei extreme Positionen: Jenseits des Rheines darf im Grunde jeder auf alles schießen, was zur Folge hat, dass ein Reh in Frankreich so selten geworden ist wie eine Wüstenmaus in Finnland. In manchen Kantonen der Schweiz dagegen wurde die Jagd in den 70er-Jahren auf Betreiben von Tierschützern per Volksentscheid ganz abgeschafft. Weil im Kanton Genf aber dadurch die Wildschweine zur unerträglichen Plage der Bauern und Gartenbesitzer geworden sind, werden Polizeibeamte nachts losgeschickt, um im Scheinwerferlicht die Schädlinge abzuknallen.
Das deutsche Jagdrecht ist eine Errungenschaft der Revolution. 1848 durften die Bauern auf ihrem Grund und Boden erstmals auch das Wild erlegen, das bis dahin Eigentum des Landesfürsten war. Das Recht zu schießen schließt heute die Pflicht zu hegen mit ein. Nach Angaben des Jagdschutz Verbandes wenden die 380.000 deutschen Jäger jedes Jahr rund 100 Millionen Euro auf zur Verbesserung des Lebensraumes der Waldtiere.
Waidmannsdank.