Und ewig grüßt der Gerichtsdiener

Zwei Dülmener Brüder sollen in großem Stil Banken betrogen haben. Am 50. Prozesstag wurde erst der fünfte von 115 Zeugen angehört

MÜNSTER taz ■ Gestern traf sich die neunte Wirtschaftsstrafkammer zu ihrem 50. Verhandlungstag, an der Eingangstür im Landgericht Münster hängen bereits Termine bis Weihnachten 2005. Einer der größten Wirtschaftsprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik dümpelt weiter vor sich hin. Die Seite der drei Angeklagten stellt rege Anträge, die Staatsanwälte und Richter versuchen, nicht ihre Beherrschung zu verlieren.

Wie eine Wiederkehr des ewig Gleichen schlurft Dieter Löbbert (55) an jedem Gerichtsmorgen gemächlich auf seinen Platz. Er ist einer der drei Angeklagten, groß gewachsen, trägt schulterlanges Haar, einen Schnauzbart, einen schwarzen Anzug und eine dunkel umrandete Brille. Im Landgericht wirkt Dieter Löbbert stets, als leide er unter schweren Gebrechen. „Altersdemenz“, „Angst“, all das und noch viel mehr wurde schon bei ihm diagnostiziert. Doch der Schein trügt – befand jedenfalls ein vom Gericht bestellter Gutachter. Der attestierte die Verhandlungsfähigkeit. Jetzt reibt sich der Angeklagte intensiv sein rechtes Knie – vielleicht eine Arthrose?

Weiter links, auf einem erhöhten Platz, sitzt derweil Johannes Löbbert (57). Der große Bruder trägt ebenfalls Schnauzbart und dunkles Tuch. Er blickt eher gelangweilt ins Nirgendwo. Sieben Minuten nach Verhandlungsbeginn schließt er das erste Mal die Augen. Einst galt Johannes Löbbert als unternehmerischer Visionär, schrieb Bücher über Wirtschaftstypen, über „Blaumänner“ und „Schlipsträger“. Nun baut er auf seine Anwälte. Bankkaufmann Karl Theodor Müller (55) aus Düsseldorf, der dritte Angeklagte, studiert im Gerichtssaal fleißig die Akten und macht sich mit einem Kugelschreiber Notizen.

Es ist schon sehr viel geschrieben worden über diesen Fall. Allein die Anklageschrift zum Kreditbetrug und zur Bilanzfälschung ist 722 Seiten lang. Seit 1997 hatte die Bielefelder Staatsanwaltschaft ermittelt und bundesweit etwa 200 Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Im Juni 2001 sah sie in diesem Wirtschaftskrimi endlich klarer: Als faktische Herrscher über ein insgesamt etwa 300 Firmen umfassendes Imperium der Entsorgungsbranche sollen die Gebrüder Löbbert aus Dülmen in der Zeit von 1993 bis 1998 dafür gesorgt haben, dass mehr als 1.000 Luftrechnungen geschrieben wurden, um die Bilanzen ihrer Unternehmen zu frisieren. Auf den Schwindel fielen laut Anklage 30 Banken herein. Sie gewährten Kredite in Höhe von 860 Millionen Mark. Außerdem wurden zahllose Anleger durch mutmaßlich manipulierte Konzernabschlüsse geschädigt – ein Unternehmen aus Hannover soll allein um 70 Millionen Mark betrogen worden sein.

Im Saal 23 des Münsteraner Landgerichts ist von Schuldbewusstsein nichts zu spüren. Eine blonde Zeugin aus Dülmen wird stundenlang zu „Deckelsäcken“ und „Schlammbehandlungsanlagen“ befragt. Es ist erst die fünfte Zeugin, 115 Personen sollen noch folgen.

Zuvor sind versierte Strafverteidiger aufgetreten: Sven Thomas, Norbert Gatzweiler, Peter Dankert und Alexander Ignor. Erst am achten Verhandlungstag durfte die Staatsanwaltschaft überhaupt ihre Anklage verlesen. Zuvor wurde endlos über den Gesundheitszustand von Dieter Löbbert debattiert – ein Arzt aus Osnabrück steht nun wegen eines Gefälligkeitsgutachtens ebenfalls unter Anklage.

Schon vor der Eröffnung des Hauptverfahrens in Münster wurden dutzendweise Befangenheitsanträge präsentiert. Dabei beharrte man „auf haltlosen Rechtsansichten“. Es gehe hier nicht mehr „um die Wahrung prozessualer Rechte“, sondern „um die Verschleppung dieses Verfahrens“, stellte das Oberlandesgericht Hamm bereits vor zwei Jahren fest. Doch die Strafprozessordnung lässt Beweis- und Befangenheitsanträge zu. In der Hauptverhandlung wurden davon bislang 108 gestellt.

Die Bielefelder Staatsanwälte wehren sich nach Kräften – ein früherer Rechtsbeistand von Johannes Löbbert wird gar per Haftbefehl gesucht: Dirk B. hatte sich im Verfahren selbst als „bekannter und gefürchteter Strafverteidiger“ bezeichnet. Ihm wird jetzt nicht nur falsche Verdächtigung und Betrug vorgeworfen, neben dem Honorar aus dem Fall Löbbert soll er zudem Arbeitslosengeld bezogen haben.

Die Angeklagten befinden sich weiter auf freiem Fuß – ein Haftbefehl gegen die Gebrüder Löbbert wurde am 2. Juli 1999 gegen Zahlung von zehn Millionen Mark außer Vollzug gesetzt. Dieter und Johannes Löbbert, so mutmaßt die Bielefelder Staatsanwaltschaft, haben Teile ihres Vermögens rechtzeitig ins Ausland schaffen können. In Deutschland droht ihnen nach den Geständnissen mehrerer Mittäter zwar eine lange Haftstrafe. Ob die jemals verhängt wird, steht in den Sternen.

HUBERTUS GÄRTNER