piwik no script img

Archiv-Artikel

Jahresabschluss-Überraschungssound

Was gespielt wird, erfährt nur, wer hingeht: Auch das diesjährige Silvesterkonzert des Philharmonischen Orchesters steht unter dem Motto „Who is afraid of 20th Century Music?“

Ludwig van Beethovens Neunte muss allsilvesterlich herhalten – in jedweder QualitätMetzmachers Rezeptur: Eine Mischung aus Werkauszügen und eigenständigen Miniaturen

Silvesterkonzerte und Neujahrskonzerte allerorten: Das Spektrum dessen, was dem unterhaltungs- oder kunstgenusswilligen Publikum angeboten wird, ist aber nur auf dem ersten Blick breit. Wer genauer hinschaut, der stellt fest, dass allüberall die leichte Muse des 18. oder 19. Jahrhunderts auf dem Programm steht. Da gibt es kaum einen Unterschied zwischen Großstadt, Kleinstadt oder Dorfgemeinde. In der dörflichen Gemeinde ist es das kleine Ensemble, das mit Stücken zwischen Kammermusikfassungen von Strauß-Walzern und instrumentalen Kurzfassungen leicht verdaulicher, möglichst bekannter Opern oder auch mit musikalischen Parodien und Sketchen sein dankbares Publikum findet. Ist die Stadt etwas größer, wird das ortsansässige Orchester zu einem unterhaltsamen Stelldichein auf die Konzertbühne gebeten. Dort erklingen dann die immer gleichen Walzer, Märsche, Tänze und manchmal auch Filmmusiken vergangener Zeiten. Ist kein Orchester vor Ort zur Verfügung, so engagiert man ein ad hoc zusammengestelltes Ensemble und hofft, dass dieses dann für den musikalisch sättigenden Jahreswechsel sorgt.

In den Großstädten unseres so kulturbeflissenen Landes gibt es das alles auch, aber mancherorts gibt es ein bisschen mehr. Gerne präsentieren die Orchester vor Ort dann ein Programm im Stil des Wiener Neujahrskonzertes, vergessend, dass ihnen die Befähigung für derartige Musik nicht immer in die Wiege gelegt ist. Das Ergebnis ist dann auch oft etwas traurig, wenn mehr preußischer Marschschneid als Wiener Esprit und Charme erklingt. Darüber hinaus steht zum Jahreswechsel in vielen Großstädten noch „Die Sinfonie“ schlechthin auf dem Spielplan: Ludwig van Beethovens Neunte. Damit auch jeder merkt, dass die Europahymne von einem zumindest halbwegs deutschen Komponisten stammt, wird dieses Schlüsselwerk der Musikgeschichte alljährlich zum Jahreswechsel bis zum wirklichen Überdruss musiziert.

Gut, dass der wahrhaftige Europäer Beethoven, entstammend aus niederländischem Geschlechte, geboren und groß geworden in Bonn, zu Ruhme und zu Tode gekommen in Wien, all diese Konzerte nicht erleben kann. Welch Massen an mittelmäßigen Dirigenten sich zu diesem Anlass an diesem Opus Magnum vergreifen, das würde dicke Bücher fühlen. Und dann noch die vielen, nicht selten lustlos auf ihren Instrumenten herumspielenden Orchestermusiker. Und trotzdem erbauen solche Aufführungen immer wieder das Publikum. Aber es sei nicht unterschlagen: Manchmal gelingen zu diesem Anlass auch beeindruckende Aufführungen von Beethovens Neunter.

Und dann gibt es die großen Traditionen, die Silvester- und Neujahrskonzerte in den Musikmetropolen der Welt. Allen voran das legendäre Wiener Neujahrskonzert, in dem Ritual und Kunstgenuss eine einzigartige Verbindung eingehen. Wenn auch für manch Außenstehenden die zur Schau getragene musikalische Jahresanfangsfröhlichkeit mit der wienerischen Brise Jahresabschiedsmelancholie anachronistisch wirken mag: Die immer wiederkehrende, in sich aber stets variierende Mischung aus vorwiegend Wiener Tänzen des 19. Jahrhunderts trifft in Zeiten eines rückwärts gewandten Musikverständnisses, wie es heute vorherrscht, genau den Geschmack der bildungsbürgerlichen Massen. Und da die jährlich neu ausgewählten Werke immer Niveau haben, die Wiener Philharmoniker unübertrefflich sind und auch die Dirigenten dieser Kultveranstaltung meist zur Crème der Crème gehören, darum ist dieses Konzert auch heute noch ein musikalischer Leckerbissen.

In Hamburg, der Stadt, die gerne Musikmetropole wäre, aber nicht einmal ein zeitgemäßes und ausreichend großes Konzerthaus besitzt, hat sich seit vier Jahren eine neue Form des Silvesterkonzertes etabliert, die tatsächlich etwas Besonderes darstellt: Ingo Metzmachers Silvesterkonzert unter dem Motto „Who is afraid of 20th Century Music?‘. Alljährlich versammelt Metzmacher seine Hamburger Musiker in der Musikhalle zum Streifzug durch die Musik des 20. Jahrhunderts. Da verirrt sich zwar auch einmal ein bekannteres Stück ins Programm, die große Mehrheit der Stücke jedoch bilden Raritäten des vergangenen Jahrhunderts. Das Spektrum reicht vom Musical-Ausschnitt über Bühnenmusiken bis zu kürzeren Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts. Eigenständige Miniaturen stehen genauso auf dem Programm wie Ausschnitte aus größeren Werken.

Stilistisch reicht das Spektrum von Filmmusik bis zu Bernd Alois Zimmermann oder Mauricio Kagel. Ausschnitte aus Opern- oder Ballettmusiken von Prokofieff und anderen gehören genauso dazu wie schmissige Tanzrhythmen aus der Feder Gershwins oder Bernsteins. Und selbstverständlich gibt es immer auch Aktuelles. Die das vergangene Jahrhundert in seiner ersten Hälfte prägenden Komponisten sind aber bisher immer im Programm vertreten gewesen. Ravel genauso wie Ives, de Falla ebenso wie Weill. Das Wichtigste jedoch: Das Publikum weiß bis zuletzt nicht, was am Silvestermorgen um 11 Uhr erklingen wird. Offenheit wird beim Publikum genauso vorausgesetzt wie Wandlungsfähigkeit im Orchester. Man darf also gespannt sein, was das Silvesterkonzert 2003 bringen mag. Und wer nicht hingehen kann oder will, der kann den Live-Mitschnitt als CD erwerben. Reinald Hanke

Silvesterkonzert des Philharmonischen Staatsorchesters: Mi, 31.12., 11 Uhr, Musikhalle