piwik no script img

Archiv-Artikel

Einander ferne Seelen

Trost ist Illusion und Kommunikation ist bloße Form – und dennoch ist da eine Art Utopie: Das Kino Arsenal zeigt die wichtigsten Filme des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore’eda

VON OLAF MÖLLER

Zu den betrüblichen Dingen der Filmpräsentation gehört, dass interessante Programme, von einem Festival oder Filmarchiv einmal zusammengestellt, selten ihren Weg in andere Städte finden. Aber manchmal klappt es doch: Die Viennale präsentierte im Oktober eine Werkschau von Hirokazu Kore'eda. Die Kopien und vor allem die Bänder der selten zu sehenden TV-Dokumentationen waren in greifbarer Nähe, Verhandlungen setzten ein, und nun läuft die Werkschau auch in Berlin; andere Städte, darunter Köln, sollen im Laufe des nächsten Jahres folgen.

Hirokazu Kore'eda ist einer der wenigen bedeutenden Filmemacher Japans, dessen Spielfilmschaffen in Deutschland bereits zu sehen war: „Maboroshi no hikari“ („Maboroshi – Licht der Illusion“, 1995) und „Wandafuru Raifu“ („After Life“, 1998) liefen ihrerzeit im Kino, der in Cannes in diesem Mai preisgekrönte „Dare mo shiranai“ („Nobody Knows“, 2004) ist für März 2005 angekündigt. Es fehlt also bislang nur sein Meisterwerk, „Distance“ (2001), was eher an den Forderungen der Weltrechtehändler als am mangelnden Willen hiesiger Verleiher liegen dürfte.

„Distance“ vermisst rigoros die Ferne zwischen den Menschen. Blutsverwandte sitzen einander gegenüber, sie teilen denselben physischen Raum, ihre Seelen aber leben in verschiedenen Sonnensystemen. Alle Kommunikation ist Form, alles Seelenheil, aller Trost sind Illusion. Der Film reflektiert dieses spirituelle Vakuum, das die Aum-Shinrikyo-Sekte mit Jenseitsvisionen füllt, so stark, dass Menschen zu Mördern werden.

Für einen Filmemacher seiner Generation hat Kore'eda – geboren 1962 in Tokio – einen ungewöhnlichen Werdegang: Er studierte Literatur, merkte währenddessen, dass er Filme machen wollte, beschränkte sich aber zunächst darauf, Filme zu sehen. Nach Abschluss seines Studiums bewarb er sich ohne praktische Erfahrungen bei der wegweisenden TV-Dokumentarfilmproduktion TV Man Union und wurde trotzdem als Regieassistent und Aufnahmeleiter eingestellt. Sein erstes Werk, „Mo hitotsu no kyoiku“ („Lessons from a Calf“, 1991) drehte er heimlich in Eigenproduktion. Vollenden konnte er es erst, nachdem er einen offiziellen Auftrag für eine eigene Produktion erhalten hatte, nämlich für „Shikashi … Fukushi kirisute no jidai ni“ („However … In the Time of Public Welfare Cuts“, 1991), eine Dokumentation, die sich mit dem Thema Sozialfürsorge befasst.

Zur cause célèbre des japanischen Fernsehens wurde Kore'eda, als er 1994 „Kare no inai hachigatsu ga“ („August without Him“) fertig stellte, eine Dokumentation über das Sterben von Hirata Yataka, des ersten Mannes, der öffentlich darüber sprach, sich durch schwulen Sex mit dem HI-Virus infiziert zu haben. „Kare no inai hachigatsu ga“ ist auch ein Essay über die Grenzen dokumentarischer Objektivität; der Film wirft die Frage auf, inwieweit anteilnehmende Subjektivität nicht sogar die Pflicht eines Filmemachers ist, der sein Material aus dem Leben schöpft.

Während die Dokumentationen hier unentdeckt blieben, gelang Kore’eda mit seinem Spielfilmdebüt gleich ein Durchbruch. „Maboroshi – Licht der Illusion“ erzählt die Geschichte einer Frau, die nie über den Tod ihrer Großmutter hinwegkommt und deren Existenz durch den Freitod ihres Gatten noch weiter in Frage gestellt wird. Auch wenn der Film inhaltlich typisch ist für Kore'eda – Verlust und Erinnerung sind die zentralen Themen seines Schaffens –, bleibe er, so sagt er selbst, ein Problemfall. Denn der Antrieb, das Bewusstsein sozialer Verantwortlichkeit, fehlt. „Maboroshi no hikari“ ist mit den langen, starren Einstellungen purer Formalismus.

Für seine folgenden Werke griff Kore'eda auf seine Erfahrungen als Dokumentarist zurück, auch wenn sich das im Zusammenhang mit „After Life“ verschroben anhört. Denn „After Life“ ist ein Film, in dem freundliche Bürokraten-Engel dafür sorgen, dass die Seelen der Verstorbenen in die jeweils individuelle Ewigkeit geschickt werden: in die schönste Erinnerung ihres Lebens. Als Grundlage dienten Kore'eda zahlreiche Interviews, die er mit meist älteren Menschen über ihre Jenseitsvorstellungen und ihre Vision von Glück führte. Gedreht wurde mit Profis und Amateuren, die zum Teil wild improvisierten.

Zwei Jahre vor „After Life“ drehte Kore'eda „Kioku ga ushinawareta toki“ („Without Memory“), das Porträt eines Mannes, der auf Grund eines ärztlichen Kunstfehlers an der Wernickeschen Enzephalopathie erkrankte und sich nicht mehr erinnern kann. Man fragt sich: Was mag dieser Mann den guten Geistern von „After Life“ sagen, wenn sie ihn nach dem glücklichsten Augenblick seines Lebens fragen? Doch Kore'eda ist kein Pessimist. Steht doch am Anfang seines Schaffens „Lessons from a Calf“, die Dokumentation eines Schulversuchs, bei dem Aufzucht und Pflege eines Kalbs im Zentrum des Lehrbetriebs stehen. Freies Lernen, eng verbunden mit dem Leben – dies läuft quer zu all den Zwängen, die den japanischen Schulalltag definieren. Eine Art Utopie, jedenfalls ein Beispiel.

Bis 27. 12., Arsenal, Potsdamer Straße 2, Termine siehe Programm