Arme Kinder, arme Jugendliche!

betr.: „Das System hat versagt“ von Reinhard Kahl, taz vom 7. 12. 04

Richtig ist, dass – auch wenn schon seit 30 Jahren das Versagen des Systems klar ist – die Forderung nach Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems nicht die einzige sein kann (und übrigens auch nie war). Richtig ist aber auch, dass mit diesem Argument seit 30 Jahren die flächendeckende Veränderung dieses aus dem Beginn des 20. Jahrhundert stammenden Schulsystems nicht nur nicht umgesetzt, sondern als ideologisch disqualifiziert wird. Mit einem ähnlichen Argument, nämlich der nicht vorhandenen breiten Basis (sie meint wahrscheinlich die ideologische Basis der CDU), wurde von der sozialdemokratischen Kultusministerin in NRW die von ihr als eigentlich notwendig angesehene Abschaffung der schulischen Dreigliedrigkeit gerade mal wieder abgelehnt.

Richtig ist, die von Kahl behauptete „Hauptschwäche des Schulsystems“, nämlich dass Lernschwierigkeiten als störend empfunden und so störende Schüler und Schülerinnen (ja, Herr Kahl, die gibt es auch noch) zu Gestörten abgestempelt werden. Dies ist mit einem Gesamtschulsystem in der Tat alleine nicht veränderbar, nur: die Dreigliedrigkeit bewirkt, dass o.g. Schüler und Schülerinnen in andere, untere Schulformen durchgereicht werden können. Dies wäre nicht mehr möglich, wenn alle Kinder und Jugendlichen bis zum 9. oder 10. Schuljahr gemeinsam lernen. So ist die Abschaffung des jetzigen Schulsystems eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung!

Daher wäre zusätzlich zu dem, was Kahl an Fragen aufwirft, noch zu überlegen, warum in anderen Staaten Konservative mit Gesamt- und Ganztagsschulsystemen keine Probleme haben, aber in der früheren BRD und dem heutigen Deutschland die Konservativen es schafften und schaffen, ein veraltetes Schulsystem als natürlich und alle anderen Forderungen als ideologisch hinzustellen? Spannender aber ist fast noch die Frage, warum die sozialdemokratische Bildungspolitik sich bis heute nicht traut, diesem offensiv entgegenzutreten. Ich befürchte, dies wird sich in Zeiten der neoliberalen Politik jedweder Couleur auch nicht ändern und Pisa III etc. etc. wird kommen und ähnliche Artikel werden geschrieben werden. Arme Kinder und Jugendliche! MONIKA DOMKE, Köln

Reinhard Kahl hat mal wieder Recht, aber es will ja – wie seit Jahren – wieder keiner hören. Und das hat leider sehr tiefe Gründe: In Deutschland werden Unterschiede zwischen Menschen vorrangig nicht mit „anders“, sondern mit „schlechter“ bzw. „besser“ beschrieben; den anderen „klein machen“, Mobbing in jeder mehr oder weniger subtilen Form, ist die vorherrschende Umgangsform – gerade in der Schule und nicht nur unter SchülerInnen. Da gibt es so ein wunderbares Instrument, eine von allen (!) Beteiligten leicht zu handhabende Waffe: Noten (und die übliche, Abhängigkeit fördernde Form des Lobens).

Das deutsche Grundbefürfnis, andere kleiner zu machen, als man sich selber gerade fühlt, und das Machtinstrument „Noten“ erschwert bzw. verhindert in der Schule aber das Lernen, denn wer riskiert in diesem verminten Feld gern Fehler? Deshalb kann man in Deutschland lange mehr Geld für Bildung ausgeben und die Schulformen ändern, die entscheidende Frage ist: Wie können wir Menschen in Deutschland so viel Selbstwertgefühl erwerben, dass wir das Beschämen der anderen nicht mehr so nötig haben? Dass Fehler ihre große lernfördernde Wirkung entfalten können?

Übrigens liegt das einzige überzeugende – und hinreichende – Argument für eine Einheitsschule in der Nähe des genannten Zusammenhangs: Nur wenn die Lehrer keinen Schüler mehr „nach unten“ abgeben können, werden sie sich um jeden Schüler wirklich kümmern (müssen). HARTWIG DOHNKE, Herten