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Archiv-Artikel

Der Zar von Adelsheim

Markus S., 22, gilt als heimlicher Herrscher über rund 140 Spätaussiedler im Jugendknast von Adelsheim. Seine Autorität stützt der Russlanddeutsche nicht mit Muskelkraft, sondern einem rigorosen Ehrenkodex. Eine Subkultur, gegen die sowohl Anstaltsleitung als auch Sozialpädagogen machtlos sind

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Seine Hoheit, der „Zar“, empfängt heute Besucher. Es ist Freitagnachmittag, und die Schule in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim ist seit ein Uhr zu Ende. Markus S. hat sich wieder in seine Zelle im Block „E 3“ einschließen lassen und nach dem Mittagessen noch etwas Gitarre gespielt. Jetzt sitzt er im Besprechungszimmer des sozialtherapeutischen Dienstes in einem Sessel, zieht an seiner Zigarette und sagt: „Die Deutschen hier im Gefängnis sind schwach, weil sie Egoisten sind. Diese Ichbezogenheit gibt es bei uns nicht.“

Markus S. drückt sich gewählt aus. Er ist 22, Schulbester und in der Verwaltung des zweitgrößten deutschen Jugendknastes hält man ihn für den heimlichen „Zaren“, Herrscher der rund 140 jungen hier einsitzenden Spätaussiedler. Fast jeder fünfte Häftling in deutschen Jugendvollzugsanstalten kommt inzwischen aus dieser Gruppe. Die ringförmige Tätowierung am rechten Mittelfinger weist Markus S. als Führungsperson aus. Was die Zeichen der Tätowierung genau bedeuten? „Das ist ein Geheimnis“, sagt er.

Markus S. zählt nicht zu den „dicken Armen“, wie das Wachpersonal die bodygestählten Muskelprotze nennt. Er ist schmal, trägt eine Baskenmütze über dem halblangen Haar, und an seiner legeren Freizeitkleidung weist nichts auf seine besondere Stellung hin. Unter den „Russen“ von Adelsheim gilt das „Gesetz der Diebe“ – ein ungeschriebener Ehrenkodex in der Tradition russischer Krimineller, gegen deren Zusammenhalt selbst Stalin machtlos war.

Erstes Gesetz: Respekt

Nach einem persönlichen Gespräch und der Lektüre seines Gerichtsurteils wird jeder Neuzugang vom „Zaren“ und seinen „Ministern“ in das hierarchische System eingestuft. Sexualstraftäter stehen ganz unten. „Wir bestrafen sie dafür, dass sie es an Respekt haben fehlen lassen“, sagt Markus S. „Sie werden geschlagen und müssen viel Obschtschjak bezahlen.“ Obschtschjak, zu Deutsch Allgemeinheit, nennt sich die „Steuer“ in dieser Subkultur. Natürlich ist die illegal. Doch Markus S. sagt ganz offen: „Ich verwalte den Obschtschjak für unsere Gruppe.“ Respekt ist ein Wort, das Markus S. oft verwendet. „Wir verlangen Respekt vom Personal und von anderen Gefangenen“, sagt er. „Wer uns respektiert, den respektieren wir auch.“ Dabei hat er selbst alles andere als Respekt gezeigt, als er vor zwei Jahren in Kehl in ein Einfamilienhaus einbrach und ein Ehepaar niederstach. Wegen schwerer Körperverletzung wurde der damals 19-Jährige zu dreieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt.

Gefängnisleiter Joachim Walter hat viele Jahre Erfahrung mit jungen Russlanddeutschen hinter seinen Mauern gesammelt: „Das Kennzeichen dieser Gruppe ist ihre extreme Abschottung. Jeder Neue wird sofort in die strenge Hierarchie eingeordnet. Da gibt es ein permanentes Ranking. An die Spitze kommt man nur mit Intelligenz, körperlicher Durchsetzungsfähigkeit und guten Verbindungen. Das Grobe erledigt die zweite oder dritte Garnitur. Individualität ist bei Russlanddeutschen selten, die haben das nicht so gelernt in ihrer Kindheit. Dort heißt die Devise: eisern durchhalten, die körperliche Auseinandersetzung suchen, niemals rückwärts gehen, Gewinner sein, nach außen dicht halten.“

Zweites Gesetz: die Gruppe

Gegen einen solchen Block erweist sich jede Gefängnispädagogik als machtlos. Weil beispielsweise im „Gesetz der Diebe“ das Putzen als unwürdig gilt, weigern sich die jungen Spätaussiedler, einen Besen in die Hand zu nehmen, akzeptieren dafür lieber eine Strafe und verzichten auf Freizeit und andere Vergünstigungen. Nur Frauen und „Fische“ verrichten solche niedrigen Dienste. „Fische“ sind Schwächlinge, und „Ziegen“ heißen diejenigen, die mit dem Gefängnispersonal zusammenarbeiten. „Verräter“ also. Um „Ziegen“ zu belohnen und zu schützen, werden sie in Adelsheim auf andere Häuser verlegt, in denen sie sich freier bewegen können und sogar einen eigenen Schlüssel zu ihrer Zelle besitzen. Doch das Lockmittel hat bislang wenig bewirkt: Von den über 140 Spätaussiedlern haben nur 10 dem Gruppendruck widerstanden. In den Werkstätten oder in der Schule, wo sie zwangsläufig auf ihre alte Gruppe stoßen, kommt es immer wieder zu Gewalttaten.

„Sie sind eine Schande für uns“, sagt Markus S., „und das lassen wir sie spüren.“ Wer sich dagegen den Regeln des „Zaren“ unterwirft, wird vom Chef belohnt. Immer wieder gelingt es, Drogen in den Knast zu schmuggeln, über deren Verteilung die Elite der Spätaussiedler wacht. „In allen kyrillisch geschriebenen Briefen“, sagt Anstaltsleiter Walter, „haben wir offene oder verdeckte Drogenbestellungen gefunden.“ Nun müssen die Russlanddeutschen in deutscher Sprache schreiben. „Wir können deswegen schließlich keinen Übersetzer anstellen“, sagt Walter. Das Rauschgift wird von Besuchern und Freigängern im Körper hereingeschmuggelt. Keine Körperöffnung ausgenommen. Selbst Eltern von Knackis wurden schon als Drogenkuriere erwischt. Oder die Päckchen werden nachts mit Katapulten über die fünfeinhalb Meter hohe Gefängnismauer geschossen. Mit Angelhaken, aus Kleiderbügeln gebastelt, ziehen die Gefangenen die Sendung von ihren Fenstern aus in Sekundenschnelle in die Zellen. Die zwei Patrouillen, die in der Nacht die eineinhalb Kilometer lange Mauer überwachen, sind kein Problem. „Wir sind nicht machtlos“, widerspricht Gefängnisleiter Walter.

Gegenstrategie: Bildung

Gegen die Macho-Strategie der „Zaren“ setzt die Gefängnisleitung die Strategie „Wissen ist Macht“. In Adelsheim können Jugendliche nicht nur einen Schulabschluss bis zum Abitur, sondern auch in 18 verschiedenen Berufen eine Lehre machen. „Wir zeigen ihnen, dass man mit ihren Schwarz-Weiß-Mustern in Deutschland keine guten Chancen hat“, sagt Walter. Dabei hilft ihm die Sozialpädagogin Irina Wagner, eine russisch sprechende Betreuerin, die selbst als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam. „Man hat diese Jugendlichen nach Deutschland geholt, aber kaum etwas für ihre Integration getan. Im Gefängnis damit anzufangen ist ein wenig zu spät“, sagt sie. Um mehr über die Gesetze und den kulturellen Hintergrund seiner Insassen zu erfahren, schickte Walter eigens einen Gefängnispsychologen und zwei Vollzugsbeamte nach Russland. „Ich habe dort erst mal meine Vorurteile revidiert“, sagt Steffen Volk, der im sibirischen Omsk mit Russlanddeutschen sprach. „Die Leute haben mich zu sich nach Hause eingeladen und waren so etwas von gastfreundlich.“ In einem Jugendgefängnis, das er besichtigte, machte er Bilder für seine Kollegen: Fotos von Massenschlafsälen und soldatischem Drill. „Mit unseren deutschen Verhältnissen können sie keinen dieser Jugendlichen abschrecken“, sagt Volk.

Zurück in Adelsheim spürte er dann wieder die unsichtbare Mauer zwischen sich und den Spätaussiedlern. „Kartoffeln“ nennen sie hier die Deutschen – und es ist keine Ehrbezeugung. Als fünf deutsche Jugendliche kürzlich im Fernsehraum den Kanal wechseln wollten, kam es zum Gerangel mit drei Spätaussiedlern. Am Ende lagen fünf „Kartoffeln“ auf der Krankenstation. Die ebenfalls blutenden „Russen“ verweigerten jede ärztliche Hilfe und gingen als Sieger auf ihre Zellen. „Bei uns sind Männer eben Männer und Frauen Frauen“, sagt der „Zar“. „In Deutschland ist das leider oft andersherum.“