: Klassenloses Phänomen
Seid umschlungen, Vorgartentannen! In Skandinavien erfunden, in den USA professionalisiert, hängt die gemeine Lichterkette auch hierzulande noch lange nach Weihnachten in Fenstern und Bäumen
von CLEMENS NIEDENTHAL
„Er wartete in der Küche, rastlos, öffnete ein Bier, das er nicht trank. Die tausend Lämpchen im Garten des Nachbarn fingen plötzlich an zu blinken wie tausend gelbe Facettenaugen, wie Sterne, die der Erde eine Botschaft bringen. Zum Teufel noch mal, dachte er, gleich geh ich rüber und überbring dem Kerl mal eine deutliche Botschaft.“
(Aus: „Der Himmel auf Erden“
von Ake Edwardson)
Weihnachten ist das Fest des Lichts – genauer gesagt: das Fest der elektrischen Beleuchtung, auch über die eigentlichen Weihnachtsfeierlichkeiten hinaus. Weihnachten wird vier, nein, mindestens sechs Wochen lang gefeiert, blinkt und glitzert und illuminiert die tristen Nächte im Dezember, leuchtet weit in den Januar hinein.
Im winterdunklen Skandinavien sollen elektrischen Lichterketten zuallererst um wehrlose Vorgartentannen geschlungen worden sein. In den USA und in Kanada wurde ein solches Tun am hinreichendsten professionalisiert. Das Architekturbüro NCC Landscape Architects etwa, verantwortlich für eine stimmungsvolle Lichtsetzung in der kanadischen Metropole Ottawa, hält in einer handlichen Broschüre auch Tipps für private Lichtspender parat. Darin Ratschläge wie dieser: „An Laubbäumen nie mehr als drei verschiedene Farben verwenden, an Nadelbäumen nie mehr als fünf.“ Wahrscheinlich erlebt man gerade ein ziemlich buntes Durcheinander in und um Ottawa. Aber bunte Durcheinander erlebt man auch an Plattenbauten in Berlin-Pankow. Oder an Sindelfinger Doppelhaushälften.
Die Weihnachtsbeleuchtung scheint ein klassenloses Phänomen. Aber nicht minder – und das haben amerikanische Fernsehserien schon lange begriffen – ein Gegenstand der gesellschaftlichen Distinktion. So wird in der Heimwerker-Comedy „Hör mal, wer da hämmert“ das gigantischste Lichtarrangement als erstrebenswertes Statussymbol der weißen Mittelklässler in Suburbia ausgestellt. Während die versnobten Großeltern der „Gilmore Girls“ die Kulturlosigkeit ihrer neureichen Nachbarn an einem illuminierten Plastik-Rentier festmachen.
Und hierzulande? Werden fast jeden Morgen entwendete oder mutwillig beschädigte Weihnachtsbeleuchtungen der Polizei gemeldet. Ein einheitliches Täterprofil lässt sich nicht erstellen, weder bei den Anbringern der Lichterketten noch bei deren Wegbringern. Die offiziellen Wegbringer allerdings lassen sich Zeit. Und so wird nicht einmal der 6. Januar, Tag der Heiligen Drei Könige, ein wenig Dunkel ins Licht bringen. Weihnachten ist schließlich ein Gefühl. Und als solches scheinbar universal erweiterbar.
Aber die winterliche Illumination ist immerhin auch das: ein Licht im Dunkel der Konsumflaute. Kontinuierliche Umsatzzuwächse von bis zu dreißig Prozent verzeichnet der deutsche Einzelhandel Jahr für Jahr. Auch, weil vom Baumarkt bis zum Lebensmitteldiscounter längst überall auch bunte Lichter zu erstehen sind, für dinnen und draußen, in lang und kurz und allen Preislagen. Dazu fassadenkletternde Weihnachtsmänner und Kunstschnee aus der Dose. Fürs Wohnzimmerfenster.
Doch zurück zu den Lichtern. Und hin zum Strom, der diese leuchten lässt. Viel Strom, so könnte man zunächst meinen. Doch selbst Paul Schmidt vom Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) will den Freunden der farbenfrohen Lichterketten keinen schwarzen Peter zuschieben: „Sie sollen kein schlechtes Gewissen haben, aber bedenken, dass nicht die Wattzahl entscheidend für eine schöne Weihnachtsstimmung ist.“ Aufgrund so genannter Grundlastkraftwerke sei gerade in den Nachtstunden genug überschüssige Energie vorhanden.
Außerdem sprechen die Zahlen keine eindeutige Sprache. Der Energiebedarf der gesamten kommerziellen Weihnachtsbeleuchtung in der Hamburger Innenstadt beispielsweise ist in etwa identisch mit dem Jahresstromverbrauch von fünf Einfamilienhäusern. Und selbst die engagiertesten Beleuchter verglühen in der Vorweihnachtszeit selten mehr als hundertfünfzig Euro an zusätzlichen Stromkosten in ihren Vorgärten. Viel zu viel oder gerade noch wenig? Wohl einzig eine Frage der persönlichen Perspektive.
Und so wird es nicht mehr lange dauern, bis solch persönliche Perspektiven nach einer objektiven Rechtsprechung verlangen. In einer Gesellschaft, in der selbst Maschendrahtzäune vor Gericht landen, wird sich bald auch der Anwalt eines ersten Lichterkettenbelästigten melden. Man darf gespannt sein auf sein Plädoyer. Und ob es dem Richter einleuchtend erscheint.
PS: Bertil Ringmar, der Kommissar aus Ake Edwardsons eingangs zitiertem Roman, hat dem schwedischen Lichterfreund von gegenüber dann übrigens doch nicht den Schädel eingeschlagen.