Crash-Kurs zur Vorbereitung auf die neue Zeit

Juristisches Neuland ist Hartz IV auch für Arbeitslosenberater. Im Wissenschaftsladen Bonn erklärt ein ausgewiesener Kritiker der Arbeitsmarktreformen die Grundzüge des Gesetzes im Schnellverfahren. Den Kursteilnehmern, die zu Experten in parteiischer Beratung werden sollen, raucht alsbald der Kopf

Von Susanne Gannott

Die neuen gesetzlichen Regelungen im „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, besser bekannt als Hartz IV, treffen nicht nur Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Auch die „Experten“, die beruflich mit Arbeitslosen zu tun haben, müssen sich umstellen. Juristen, Sachbearbeiter der Kommunen und Arbeitsagenturen, Sozialarbeiter, Jugendhelfer und Arbeitslosenberater: In Crash-Kursen bereiten sie sich auf die neue Zeit vor.

Stippvisite im Bonn. Der Wissenschaftsladen veranstaltet kurz vor Weihnachten ein Seminar „Arbeitslosengeld II und Sozialgeld nach dem neuen Sozialgesetzbuch (SGB II)“. In zwei Tagen bekommen die zwölf Kursteilnehmer die Grundlagen eingebläut: Was ist der Unterschied zum bisherigen System, wie berechnen sich Leistungsansprüche, was versteht der Gesetzgeber unter „Fördern“ und „Fordern“.

Seminarleiter Harald Thomé macht keinen Hehl daraus, dass er von der Hartz-„Reform“ herzlich wenig hält. Mit Thesen wie „ALG II ist eine direkte Rutsche in die Armut!“ und „ALG II bedeutet Arbeit um jeden Preis“ gibt er gleich zu Beginn seiner 62-seitigen Powerpoint-Präsentation die Richtung vor. Wer Thomé kennt, wird freilich nichts anderes erwartet haben: Als Mitbegründer von „Tacheles e.V.“, einer bundesweit bekannten Arbeitslosen-Interessenvertretung in Wuppertal, macht er seit 11 Jahren Rechtsberatung für Betroffene.

Damit seine Schüler ebenfalls zu Experten in „klientenorientierter“, sprich: parteiischer Beratung werden, haut Thomé ihnen die Paragraphen von SGB II, III und XII nur so um die Ohren. Am Morgen des zweiten Seminartages ist Detlef Wüstenberg etwas entmutigt. „Eigentlich ist das viel zu viel Stoff, jedenfalls für mich. Ich bin neu in dem Metier.“

Der graubärtige Endvierziger kommt aus Schleswig-Holstein und will mit ein paar Gleichgesinnten in seinem Heimatort Grobbohm, 25 Kilometer von Itzehoe entfernt, eine Beratungsstelle für Arbeitslose eröffnen. „So etwas gibt es bei uns immer noch nicht. Dabei werden immer mehr Menschen arbeitslos. Und das Arbeitsamt hilft ihnen überhaupt nicht.“

Ratlose Beraterin

Auch Sigrid Heidt fühlt sich überfordert – allerdings nicht vom Seminar. Sie arbeitet in einem Sozialbüro der katholischen Kirchengemeinde in Köln-Chorweiler und hat dort mit allen möglichen Problemen zu tun – wie das so ist in einem sozial benachteiligten Stadtteil. „Ich bin kein Spezialist für Arbeitsberatung.“ Daher weiß sie oft nicht, was sie den Menschen sagen soll, die sie um Rat und Hilfe bitten.

Zum Beispiel wenn das Kölner Sozialamt seinen „Bedarfsfeststellungsdienst“ vorbei schickt, um zu sehen, ob eine Familie wirklich sozialhilfebedürftig ist. „Viele Leute nehmen das so hin, sie brauchen ja Hilfe. Und sie haben zu wenig Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen.“

Auf genau dieses Thema kommt Referent Harald Thomé am Vormittag zu sprechen. Wie kann die Arbeitsbehörde mit den Betroffenen verfahren, was darf sie machen – und was nicht? Thomé gibt ein paar verfahrensrechtliche Hinweise.

Was beispielsweise die berühmte „Mitwirkungspflicht“ angeht, bei deren Verweigerung die Leistungen gekürzt werden können, so stellt er fest, dass das Erdulden von Hausbesuchen nicht dazu gehört. „Dieses Kölner Modell ist im Prinzip rechtswidrig“, sagt Thomé. „Dafür funktioniert es aber ganz gut!“, erwidert Sigrid Heidt. Sie erzählt, dass es in Chorweiler Sachbearbeiter beim Sozialamt gibt, die den „Sozialfahnder“ jedem ins Haus schicken, der zum ersten Mal Sozialhilfe beantragt.

Doch einen solchen „prophylaktischen Bedarfsfeststellungsdienst“ muss erstens niemand in seine Wohnung lassen, zweitens darf auch niemand deswegen mit einer Kürzung seiner Bezüge bestraft werden, stellt Kursleiter Thomé klar. Wo das doch passiert, hätten die Betroffenen bei einer Klage gute Aussichten, gibt er den Seminarteilnehmern einen Wink.

Spielraum für Widerspruch sieht Thomé auch, wenn die Behörden ihre Entscheidungen nicht ausreichend begründen. „Alle Berechnungen, Entscheidungen und Ermessensgrundlagen müssen transparent gemacht werden.“ Wie wichtig das sei, sehe man jetzt schon bei den Erstbescheiden über das Arbeitslosengeld II. „Die versteht kein Mensch“, sagt Harald Thomé.

Problematisch sind die Bescheide für ihn auch im Hinblick auf den Datenschutz. Der besage nämlich erstens, dass Daten, die nicht erforderlich sind, gar nicht erhoben werden dürfen und zweitens, dass sie beim Betroffenen zu erheben sind. „Das betrifft einen wesentlichen Teil der Bescheide und auch die prophylaktischen Hausbesuche.“ Denn „beim Betroffenen zu erheben“ heiße nicht, ihn zu besuchen, sondern ihn um Auskunft zu ersuchen – und zwar ihn allein und nicht seinen Arbeitgeber oder Vermieter, wie es für die Berechnung der ALG-II-Leistungen verlangt wird.

Datenschutzchaos

Zum Thema Datenschutz fällt Thomé dann noch eine Anekdote ein. Laut Gesetz, sagt er, muss die Berechnung von Leistungen für einen bestimmten Monat mit Daten aus demselben Monat erfolgen. Daher basiere die Berechnung der ersten ALG-II-Leistungen ab Januar im Prinzip auf Daten, die komplett widerrechtlich erhoben wurden – weil sie ja aus den Vormonaten stammen. „Eigentlich könnten daher alle die Löschung ihrer über die ALG-II-Anträge erhobenen Daten beantragen.“

Die Vorstellung, dass massenhafte Datenlöschanträge die Arbeitsbehörde ins Chaos stürzen könnten, scheint den angehenden Hartz-Experten zu gefallen. Mit gelösten Mienen ziehen sie in die Kaffeepause.

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