100 Stunden wühlen in der Kindheit

SEELE Analyse oder Verhaltenstherapie? Wie viele Sitzungen Patienten bezahlt bekommen, hängt zu oft vom Ärzteangebot vor Ort ab, kritisieren Experten

Das zahlt die Kasse: die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die Verhaltenstherapie sowie die Besuche beim Psychiater.

■ Die Psychoanalyse: Hier werden Konflikte aus der Kindheit bearbeitet und in Beziehung zum Leiden des Patienten gesetzt. Kann bis zu 300 Stunden dauern.

■ Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Sie sucht, ähnlich wie die Psychoanalyse, nach Konfliktmustern im Leben der Patientin. Bis zu 100 Stunden werden von der Kasse bezahlt.

■ Die Verhaltenstherapie: Hier hilft der Therapeut dem Patienten durch Training in der Gegenwart, schädliche Denkmuster zu ändern.

■ Psychiaterkonsultation: Der Psychiater verschreibt als Facharzt vor allem Medikamente, er hat die höchste Patientenzahl. BD

VON BARBARA DRIBBUSCH

Schwere Depressionen hatten Martina Winter* in eine Berliner Klinik gebracht, anschließend suchte sie einen ambulanten Therapieplatz. Die 38-jährige Krankenschwester landete schließlich bei einer Psychoanalytikerin. „Nicht, dass ich unbedingt eine Analyse wollte“, erzählt sie heute, „aber die Frau stand nun mal zur Verfügung. Und es war die Therapieform, für die besonders viele Stunden von der Kasse bewilligt wurden“. Die Therapeutin sei zwar eine menschliche Stütze gewesen, aber „das Wühlen in der Kindheit hat mir nicht viel gebracht“, sagt Winter.

Solche Sätze sind Wasser auf die Mühlen von Thomas Ruprecht, Fachreferent bei der Techniker Krankenkasse (TK). Nicht dass Ruprecht die Psychoanalyse für eine schlechte Therapieform hielte, der Experte rügt aber die „Fehlplatzierung“ vieler Therapien, die sich zu wenig an den konkreten Beschwerdebildern der Patienten orientierten. Nicht das Krankheitsbild entscheide über die Behandlung, sondern die „Art des erstkontaktierten Therapeuten“, bemängelt Ruprecht.

Analyse in Starnberg

Wo es viele Psychoanalytiker gibt, wird viel analysiert. Anderswo dagegen landen Klienten eher bei Therapeuten, die konkrete Verhaltensprogramme anbieten gegen Burn-out und Jobängste. Depressive zum Beispiel, die im Gebiet um München und den Starnberger See herum auf Suche nach Hilfe sind, „machen besonders viele Psychoanalysen“, erzählt Michaela Hombrecher, TK-Sprecherin. „Dort gibt es ein Ausbildungsinstitut für diese Therapieform“.

Während am bayrischen See gern tief in die Seele geschaut wird, ist man im Ruhrpott praktischer veranlagt. In Dortmund etwa ging von den Depressiven bei der TK keine einzige Psychoanalyse-Abrechnung ein. „Das liegt wohl am Angebot vor Ort“, meint die Sprecherin. Auf dem Land etwa schlucken die Patienten besonders häufig Antidepressiva, in großen Städten hingegen wird mehr psychotherapiert. Die Finanzfrage gewinnt dabei an Brisanz. Inzwischen, so Hombrecher, stelle die TK „mit Entsetzen“ fest, dass im Schnitt jeder fünfte TK-Versicherte, der bei einem Arzt auftaucht, eine „Psycho-Diagnose“ erhielt. Betrachtet man nur die Frauen, ist es sogar jede dritte. Die Frage ist nur: was dann?

Die Kassen bezahlen ihren Patienten maximal 80 Stunden kognitive und Verhaltenstherapien. Tiefenpsychologisch fundierte analytische Therapien dagegen dürfen bis zu 100 Sitzungen dauern, große Psychoanalysen in Ausnahmefällen sogar bis zu 300 Stunden. In den Verhaltenstherapien werden die Patienten gecoacht, sich ihren Ängsten aktiv zu stellen und, etwa in depressiven Phasen, kleine Trainingsprogramme für sich zu entwickeln. In den analytischen, den sogenannten psychodynamischen Behandlungsformen versuchen die Patienten hingegen, ihre Leidensmuster mithilfe des Blicks in die eigene Vergangenheit zu verstehen und zu verändern.

„Verhaltenstherapien erzielen den höchsten Wert für dauerhaften Erfolg“

EXPERTE JÜRGEN MARGRAF

Psychotherapien seien nachweislich „dauerhaft wirksam“, betont der Wissenschaftler Jürgen Margraf in der jetzt erschienenen internationalen Studienübersicht „Kosten und Nutzen der Psychotherapie“ (Springer-Verlag). Dabei erzielten die kognitiven und Verhaltenstherapien „den höchsten Wert für dauerhaften Erfolg“. Aber auch kürzere psychoanalytische Verfahren haben den PatientInnen geholfen. Teure Langzeitanalysen von mehr als 100 Stunden allerdings zeigten laut Margraf keinen „größeren Therapieerfolg“ als die kürzeren Behandlungen.

Als „Psychotherapie für die Mittelschicht“ bezeichnet der Versorgungsforscher Heiner Melchinger aus Hannover die aufwändigen Verfahren. Melchinger spricht sogar von einer „Zwei-Klassen-Psychiatrie“ und hat damit einen heftigen Streit im Deutschen Ärzteblatt entfacht.

Danach werden die chronisch kranken Depressiven und Psychotiker weniger psychotherapeutisch, als vielmehr vor allem nervenärztlich versorgt. Doch die Psychiater können oft nur zehnminütige Termine mit kurzem Gespräch und Medikamentenverordnung bieten. Die sogenannten Yavis-Patienten (young, attractive, verbal, intelligent, successful) hingegen landen eher und häufiger bei den Psychotherapeuten.

Zehn Minuten sind zu kurz

Nur ein monatlicher Termin bei einem Medikamente verschreibenden Psychiater aber „ist als Rettungsanker viel zu wenig“, kritisiert Manfred Bieschke-Behm, Gründer des Selbsthilfenetzwerks Depression und Angst in Berlin-Brandenburg.

Vier- bis fünfhundert Fälle pro Quartal haben manche Psychiater zu versorgen, das Standardgespräch dauert zehn Minuten, 13 Euro kriegt der Arzt dafür von der gesetzlichen Krankenkasse. Nach der Honorarreform sollte den Psychiatern sogar nur noch ein Budget von 50 Euro pro Quartal und Patient zur Verfügung stehen. Diese Begrenzung wird jedoch abgeschafft.

Die Analyse ist die Therapieform, für die die Kasse besonders viele Stunden zahlt

Fünfzig Minuten Behandlung bringen den Psychotherapeuten 82 Euro Honorar von der gesetzlichen Kasse ein, und das ohne die hohen Betriebskosten einer Arztpraxis. Nicht wenige Nervenärzte satteln daher um auf Psychotherapie und verabschieden sich aus der karg bezahlten Basisversorgung, bedauert Frank Bergmann. Der Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN) warnt aber auch: „Man sollte Krankheitsbilder nicht gegeneinander ausspielen“.

Martina Winter hat jetzt für sich eine Lösung gefunden. Sie geht in eine Selbsthilfegruppe, zusätzlich einmal im Monat zehn Minuten zum Psychiater, außerdem nimmt sie Medikamente in niedriger Dosis. Das ist ein Übergang. Zwei Jahre muss sie durchhalten. Dann zahlt die Kasse erneut eine Behandlung, diesmal wohl eine Verhaltenstherapie.

*Name geändert