: Das Jahr des Blogs
Die schon verschwunden geglaubte Demokratie im Internet kehrt vielleicht doch wieder zurück
Die Luft war schlecht, das mobile Netz hat nicht funktioniert, aber sonst war alles in Ordnung auf dem traditionellen Jahresendkongress des Chaos Computer Clubs, dem nunmehr 21.
Hacker hackten wie immer, von allgemeinerem Interesse waren die Vorträge, die auch mal in Englisch gehalten wurden. Für den Japaner Joichi Ito beginnt die Epoche der digitalen Demokratie überhaupt erst jetzt. Wer noch keine guten Vorsätze für das neue Jahr gefasst hat, sollte unbedingt das Papier unter joi.ito.com/static/emergentdemocracy.html lesen, das Ito auf dem Kongress vorgetragen hat. 2004 war in den USA das Jahr der Blogger. Private (manchmal auch nicht ganz private) Webtagebücher, „Blogs“ genannt, haben den Präsidentschaftswahlkampf maßgeblich geprägt. Die Wiederwahl von Bush haben sie nicht verhindert, weil es auch Blogs für Bush gab.
Ito findet das nicht weiter schlimm. Es entspricht der politischen Realität, viel wichtiger ist für ihn, dass es gerade die Technik des Webs ist, die den eigentlich schon tot geglaubten demokratischen Hoffnungen der Internetpioniere neue Chancen eröffnet. Die ursprünglichen Formen der Mailingliste und des „usenet“-Forums überfordern mit zu vielen unwichtigen Beiträgen alle Leute, die neben ihrer Netzleidenschaft noch einen alltäglichen Beruf haben. Sie ersticken an ungefilterter Masse und bleiben ein Hobby von wenigen.
Die ersten Blogs dagegen waren nichts anderes als Filter für das Web. Sie enthielten vor allem kommentierte Links auf Webseiten, die der Autor aus irgendwelchen Gründen bemerkenswert fand. Erst später kamen Beobachtungen und Reflexionen aus der realen Welt dazu. Mit modernen, leicht bedienbaren Programmen können auch absolute Laien annehmbare Webseiten mit solchem Inhalt füllen. Sie überschwemmen keinen Briefkasten und kein Forum, gelesen und kommentiert wird nur, was für jemand anderen tatsächlich interessant ist.
Und anders als Mailinglisten oder Foren können Blogs Links auf andere Blogs enthalten. So entstehen Interessennetze verschiedener Reichweite, die untereinander verbunden sind. Der Informatiker Ross Mayfield unterscheidet drei Stufen: Etwa ein Duzend jeweils Gleichgesinnter bilden die Kernfamilien, die mit ihren Blogs intensiven, regelmäßigen Kontakt halten. Aus gelegentlichen Links zu etwa 150 weiteren Bloggern entstehen größere, von Mayfiled „sozial“ genannte Verbände. Beiträge, die diese beiden Filterstufen durchlaufen, haben schließlich gute Aussichten zur globalen, demokratisch überprüften, daher glaubwürdigen und folgenreichen Nachricht zu werden – Tsunami-Blogs sind zurzeit die besten Quellen für Reporter und Agenturen.
Man muss nicht alle Folgerungen teilen, die Ito daraus zieht. Das japanische (wie auch das amerikanische) politische System sind mit dem deutschen nicht vergleichbar. Aber wir haben ein Jahr Zeit, die deutsche Blogger-Welt für das deutsche Wahljahr 2006 fit zu machen. Ich werde mir die dazu nötigen Progrämmchen mal ansehen.
NIKLAUS HABLÜTZEL