: Gefährliche Illusion
Arm und gleich (III): Wer Arbeit will, der findet auch welche. Dieser Kerngedanke von Hartz IV ist falsch – und er führt bei den Betroffenen zu Resignation und Depression
Angeblich ist es das Kernziel von Hartz IV, dass möglichst alle Langzeitarbeitslosen endlich in den ersten Arbeitsmarkt finden. Dieser wird jedoch immer mehr zur Fata Morgana. Hunderte von Bewerbern auf eine offene Stelle, Arbeitsplätze, die nur noch unter der Hand vergeben werden, und kaum Chancen für Menschen, die die 40 überschritten haben – das sind die Realitäten, mit denen Arbeitslose heute konfrontiert sind.
Dennoch wurde im Rahmen der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ der Bewerbungszwang erheblich verschärft. So bewegen sich viele Erwerbslose wie im Hamsterrad: Unaufhörlich sollen sie sich für einen Arbeitsmarkt fit machen, den es für sie längst nicht mehr gibt.
Was bedeutet dies für die psychische Befindlichkeit der Betroffenen? Darüber weiß man bisher nicht viel. Wie vergebliche Bewerbungen auf Arbeitslose wirken, wurde noch kaum beleuchtet. Lediglich eine Studie des Thüringer Arbeitslosenverbandes gibt erste Hinweise. In einer repräsentativen Befragung gaben nahezu die Hälfte der Interviewten an, dass sie sich durch Absagen auf ihre Bewerbungen sehr verletzt fühlen. Zur permanenten Kränkung, nicht gewollt zu werden, kommt die Ungewissheit, worauf die Absage zurückzuführen ist. Da die wenigsten Arbeitgeber – so sie denn noch Ablehnungsschreiben verschicken – die Gründe für die Ablehnung mitteilen, können die Betroffenen nur rätseln, weshalb ihnen kein Erfolg beschieden ist.
Sie befinden sich in der klassischen Situation gelernter Hilflosigkeit, die Passivität und Depressionen zur Folge hat. Nach der berühmten Theorie des Psychologen Martin Seligman ist es eine zentrale menschliche Lustquelle, „Kontrolle“ zu erleben – also die Erfahrung zu machen, dass das eigene Verhalten die Umwelt beeinflussen kann. Umgekehrt führt der „Kontrollverlust“, wenn man die Umweltbedingungen durch eigenes Handeln nicht verändern kann, zur „gelernten Hilflosigkeit“. Die Ursprungswahrnehmung, nichts bewirken zu können, wird dabei auf alle späteren Situationen übertragen.
Gelernte Hilflosigkeit hat drei Folgen:
1. Passivität und Motivationsverlust: Wenn die eigenen Handlungen ohnehin keinen Einfluss haben, ist kein Anreiz vorhanden, überhaupt etwas zu tun.
2. Verminderte Lernfähigkeit: Wenn man gelernt hat, dass man nichts bewirken kann, ist es schwer, in neuen Situationen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.
3. Depressive Verstimmungen: Man fühlt sich traurig, ängstlich und hoffnungslos, weil man nichts ändern kann und der Welt hilflos ausgeliefert ist.
Diese Befunde wurden zunächst in Tierversuchen gewonnen und später in Versuchen mit menschlichen Probanden vielfach bestätigt. Wie stark sich die Hilf- und Hoffnungslosigkeit ausprägen, hängt nicht nur von der Dauer des unkontrollierbaren Ereignisses und seinem Stellenwert im menschlichen Leben ab – wichtig sind auch die Erklärungsmuster, die herangezogen werden, um das Scheitern zu deuten. Gehen die Betroffenen zum Beispiel davon aus, dass der Misserfolg auf äußere Gründe zurückzuführen ist, dann sind Selbstwert und innere Stabilität weitaus weniger gefährdet, als wenn ein eigenes Versagen vermutet wird.
In den meisten Bewerbungsratgebern und -trainings wird den Langzeitarbeitslosen leider das ungünstige Erklärungsmuster systematisch nahe gelegt: Ihnen wird suggeriert, sie seien selbst schuld, wenn ihre Bewerbungen erfolglos bleiben. So beschreibt der Coach und Autor Thomas Heinle, der im Auftrag des Münchner Arbeitsamtes Erwerbslose vermittelt, die Arbeitsplatzsuche als ein Schachspiel, bei dem jeder die gleichen Ausgangschancen hat und der Beste gewinnt. Wer beim Spiel um Arbeitsplätze leer ausgeht, hat einfach nicht gut genug gespielt.
Ähnliche Indoktrinationen hat auch Maria Wölflingseder erfahren, die ihre Erlebnisse in ihrem Aufsatz „Phänomenale Erlebnisse einer arbeitslosen Geisteswissenschaftlerin“ beschreibt: Ihr vom Arbeitsamt verordneter „Bewerbungsimpulstag“ sah zum Beispiel folgendermaßen aus: „Fünfhundert Arbeitslose – vom Hilfsarbeiter bis zur Akademikerin – saßen zwei Coachs gegenüber. Wir wurden belehrt, dass es keine Verlierer gibt, sondern nur welche, die aufgeben …“ Jeder kann seinen Traumjob bekommen, man muss nur „von der Schattenseite in die Lichtseite treten“ und Götz von Berlichingens Ratschlag befolgen: „Lächle mehr als andere.“ Lächeln stand auch bei der darauf folgenden arbeitsamtsgeförderten Weiterbildung hoch im Kurs, auch wenn die Maßnahme selbst dazu wenig Anlass gab: „Einmal wöchentlich trainierten wir vor der Videokamera das richtige Bewerben. Mir wurde gesagt: ‚Sie haben doch so viel Charme, den müssen Sie viel besser einsetzen!‘ Täglich hörten wir, dass wir immer zu lächeln und puren Optimismus auszustrahlen hätten – ganz besonders auch beim Telefonieren. Es war uns verboten, im Kurs schlechte Erfahrungen bei der oft jahrelangen Arbeitssuche zu äußern. ‚Vergessen Sie all Ihre schlechten Erfahrungen! Sie sind kein Opfer, es liegt an Ihnen!‘“
Wenn sich die Beschwörungsformel „Du kannst es schaffen, wenn du wirklich willst!“ schließlich als Illusion herausstellt und der Traumjob trotz perfekter Selbstpräsentation noch immer auf sich warten lässt, dann ist der Absturz umso tiefer. Die so Instruierten führen den Misserfolg zwangsläufig auf das eigene Versagen zurück. Resignation, Depression oder Flucht in die Sucht sind die Folge. Auch hier ist die Sozialpsychologie erhellend: Empirische Befunde belegen, dass Menschen, die eine hohe Kontrollerwartung haben und überzeugt sind, dass ihr Verhalten Veränderungen bewirken kann, zunächst weniger niedergeschlagen sind als Menschen, die diese Hoffnung nicht teilen. Wird diese Erwartung jedoch enttäuscht, werden die Betroffenen weitaus depressiver als jene Personen, die von vornherein glaubten, nur wenig bewirken zu können, oder die ihre Handlungsmöglichkeiten realitätsgerecht eingeschätzt hatten.
Es ist fatal, dass Hartz IV die individualistische Mär von der unbegrenzten Integrierbarkeit aller Erwerbslosen verbreitet. Vielmehr müsste die Politik sinnvolle Alternativangebote für die rasant wachsende Zahl all jener Menschen entwickeln, für die der Arbeitsmarkt keine Verwendung mehr hat. Damit sind keinesfalls 1-Euro-Jobs gemeint. Sie ergänzen damit den Bewerbungszwang durch einen Arbeitszwang – dies erfahren die Betroffenen als zusätzlichen „Kontrollverlust“. Ihnen wird die Entscheidungsfreiheit über ein wichtiges Lebensereignis genommen, nämlich die Art ihrer Tätigkeit.
„Fähigkeiten sind auch Bedürfnisse“, hat schon Goethe gesagt. Gesund wäre daher eine Politik, die Menschen ohne Job nicht in Erwerbsarbeitssurrogate presst. Stattdessen müssten auch Langzeitarbeitslose die Chance erhalten, die tiefe Befriedigung zu erfahren, die in der Vervollkommnung der eigenen Fähigkeiten liegt. DAGMAR SCHEDIWY