: Erhard, Schiller, Merz
Die FDP hat vor allem ein Problem: Ihr mangelt es an Wirtschaftskompetenz. Aus dieser Not könnte sie nur ein prominenter Überläufer retten. Die Chancen dafür stehen gut
Wenn die FDP heute ihr traditionelles Dreikönigstreffen begeht, dann gewiss nicht ohne Selbstmitleid. Seit der Einigung über den gemeinsamen Bundespräsidentenkandidat mit der Union sind die Liberalen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Und das, obwohl derzeit überall FDP-Politik gemacht wird – von Steuererleichterungen über die Deregulierung des Arbeitsmarkts bis hin zum Abbau sozialer Leistungen. Nur nutzt das alles nicht der FDP. Denn sie verfügt über niemanden, der das liberale Programm so verkörpert, dass es noch als unverwechselbarer Markenartikel der Freien Demokraten wahrgenommen würde.
Es fehlt ein Lambsdorff, der zwei Jahrzehnte lang das ordnungspolitische Gewissen der Partei spielte, gleichgültig, welche bundesrepublikanische Konsensökonomie die jeweilige Regierung und ihr liberaler Wirtschaftsminister gerade betrieben. Zudem sicherte Lambsdorff seiner Partei den Anschein ökonomischer Kompetenz auch dann, wenn das Wirtschaftsministerium mit Liberalen besetzt war, denen das Publikum diese Aufgabe kaum zutraute. Heute fehlt diese Kompetenz und niemand erinnert die Wähler erfolgreich daran, dass der Reformeifer Schröders und Merkels im Kern liberalen Ursprungs ist.
Das heißt nun nicht, dass die politische Elite der Nation keine überzeugenden Marktwirtschaftler mehr kennt, nur sind sie eben nicht in der FDP. Der wohl einzige lupenreine Marktpolitiker von Format findet sich in der Union: Friedrich Merz. Doch der hat sich im Streit mit Angela Merkel mit großer Geste vorläufig selbst kaltgestellt, so sehr er sich damit auch die Wertschätzung der Parteibasis erworben hat. Die Sympathie, die Merz hier entgegenschlägt, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die radikalen Positionen des Zurückgetretenen in der Union nicht mehrheitsfähig sind. Da wäre schon die CSU vor, auch ohne Seehofer.
Ginge es in der Politik streng nach Logik, gäbe es einen ebenso schlichten wie konsequenten Ausweg aus dieser sowohl für die Liberalen als auch für Merz unangenehmen Situation: Merz wechselt zur FDP. Westerwelle und die Seinen würden ihn begeistert empfangen, denn er verliehe ihnen genau den programmatischen und personellen Glanz, der ihnen abhanden gekommen ist. Nach einer Anstandsfrist würden die Liberalen dem parteipolitischen Quereinsteiger hohe Ämter anbieten, in der Partei oder der Fraktion und nach 2006 vielleicht sogar in der Regierung. Es könnte zwar ein paar scheele Blicke aus der Union geben, aber das ginge vorüber. Schließlich hat Otto Schilys Wechsel zur SPD das rot-grüne Bündnis auch nicht verhindert.
Westerwelle selbst würde Merz schon deshalb fördern, weil dieser ihm im Unterschied zu einem hauseigenen Wirtschaftsexperten vorläufig keine Konkurrenz machen könnte. Der Neuankömmling besäße keine Seilschaft in der FDP und wäre vorläufig ganz auf die Gunst der neuen Parteifreunde, speziell des Vorsitzenden, angewiesen. Paradoxerweise würde ein Wechsel Merzens zur FDP sogar die Chancen auf eine sozialliberale Koalition vergrößern. Merz wäre Kronzeuge dafür, dass die FDP auch im Bunde mit den Sozialdemokraten die marktliberale Lehre nicht verleugnen würde.
Und auch Friedrich Merz würde sich aus einer Sackgasse befreien. Denn seine große Rücktrittsgeste mag ihm die Liebe christdemokratischer Parteitagsdelegierter eingebracht haben, politisch hat sie ihn geschwächt. Da der Rückzug von Merz eben nicht rein programmatisch motiviert war, sondern auch vom Groll über den verlorenen Machtkampf gegen die CDU-Vorsitzende, kann niemand noch ernsthaft von Angela Merkel erwarten, dass sie Merz wieder einbindet. Zumindest auf Bundesebene kann Merz in der Union nur dann noch etwas werden, wenn Merkel die Macht in Partei und Fraktion verliert. Doch das ist wenig wahrscheinlich, hat sie doch in den letzten Jahren bemerkenswertes taktisches Geschick bewiesen.
Ihre größte Niederlage, den Kampf um die Kanzlerkandidatur 2002, federte sie so geschickt ab, dass sie zum nachträglichen Sieg reifen konnte. Die weiseren Unionschristen werden sich ohnehin fragen, ob man sich den Sturz Merkels überhaupt noch leisten kann. Denn die nächsten Bundestagswahlen werden im Osten entschieden, wo die Zahl der Wechselwähler weit größer als im Westen ist – und damit auch das Verlustpotenzial einer CDU, die sich kurzfristig von ihrer einzigen genuin ostdeutschen SpitzenpolitikerIn trennt.
Merz hat sich, ähnlich wie einst Oskar Lafontaine, in die Falle der grandiosen Geste begeben, aus der er nur um den Preis einer noch größeren Geste, sprich: des Parteiwechsels, herauskäme. Dennoch fragt sich, ob Parteiwechsel überhaupt realistisch sind? Bedeuten sie nicht prinzipiell schon den politischen Selbstmord? Das hängt letztlich von der Ausgangslage ab, und diese ist im Augenblick eher günstig. Aber auch grundsätzlich hat sich einiges geändert. Je mehr die Parteien ihre Milieubindung verlieren, je mehr Wechselwähler es gibt, desto weniger wird das Wahlvolk den Parteiwechsler als Verräter brandmarken. Im Gegenteil: Angesichts wachsender Politikverdrossenheit gewinnt der einsame Überzeugungstäter sogar an Charme, und die Radikalität seines Handelns wird zum Signum ihrer Ernsthaftigkeit. Hinzu kommen noch die Gesetze der Mediendemokratie. Merz’ Bekanntheit und Beliebtheit in der Bevölkerung sind weit größer, als es für einen Inhaber seiner Ämter typisch gewesen wäre. Finanzpolitische Sprecher sind nicht von Natur aus Fernsehstars – was sie etwa vom Außenminister unterscheidet. Dieser Posten hebt alle auf den Olymp absoluter Popularität: finstere Apokämpfer wie Fischer, wackere Apparatschicks wie Kinkel und blasse Taktiker wie Genscher. Solche Amtsheiligkeit wird jedoch immer seltener.
Heute hängt es nicht zuletzt von einem Politiker selbst ab, ob er zum Medienereignis wird. Friedrich Merz ist ein Spitzentalent auf diesem Gebiet. Somit sichert die wachsende Bedeutung der Medien denjenigen, die sich ihrer zu bedienen wissen, eine größere Unabhängigkeit von Organisationen und Funktionen, als dies früher der Fall war. Nicht zu unterschätzen ist außerdem der besondere Bonus der Wirtschafts- und Finanzexperten, der Freiheiten gewährt, die kein normaler Politiker genießt. In keinem Politikbereich sind die bundesdeutschen Wähler so bereit, Kompetenz zu bewundern wie auf diesem. Nur so erklärt sich der Ruhm eines Ludwig Erhard oder eines Karl Schiller. Beide flirteten übrigens heftig mit anderen Parteien. Obwohl für die CDU im Bundestag und Minister, fühlte sich Erhard doch eher zur FDP hingezogen und trat der Union erst bei, als es um die Kanzlerschaft ging. Karl Schiller verließ 1972 die SPD und kehrte einige Jahre später zurück.
Auch wenn es nicht wahrscheinlich ist, dass Friedrich Merz seine Karriere am Dreikönigstag 2005 mit dem Übertritt zur FDP krönt, die Bedingungen dafür könnten besser kaum sein.
ANDREW JAMES JOHNSTON