: Mein Leben im Zeitungsgestrüpp
Gewandelte Wahrheiten und Geheimnisse russischer Zeitungen
VON WLADIMIR KAMINER
Als Kind fühlte ich mich von der Zeitung meines Vaters angezogen. Beim Frühstück raschelte er mit den großen Blättern und tat so, als würde er aufmerksam lesen. Wenn wir ihn fragten, was denn nun los sei in der Welt, rief er: »Lasst mich in Ruhe! Ich bin spät dran«, ließ die Zeitung auf den Boden fallen und zischte ab. Ich trat auf die Zeitungsblätter und schlurfte damit durch die Wohnung, schlurf-schlurf, schlurf-schlurf …
Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen, jetzt raschele ICH mit der Zeitung – im Zug, im Flugzeug und zu Hause, meine Frau kann dieses Geräusch nicht ausstehen. »Bitte hör auf zu rascheln«, sagt sie. »Es liegt nicht an mir, es liegt an dem Blatt«, lüge ich.
Die Zeitungen, die ich heute beim Frühstück lese, sind dick und kompakt, haben oft knallige Überschriften und ein buntes Layout. Ihre Halbschwestern aus meiner Kindheit waren viel dünner und großformatiger, die Schrift war viel kleiner, und sie hatten immer die gleichen, nichts sagenden Überschriften. Diese Zeitungen hatten sogar alle den gleichen Namen: Prawda (Die Wahrheit) hieß das Zentralorgan der Regierung, daneben gab es noch die Komsomolzen Prawda für junge Menschen und die Pionier Prawda für Kinder. All diese Wahrheiten waren kaum voneinander zu unterscheiden, und auch sonst glichen die sozialistischen Zeitungen eher einem Rätsel. Die Nachrichten waren zwischen den Zeilen versteckt, das Wichtigste fand man oft erst auf den letzten Seiten, ganz unten, klein gedruckt. Das richtige Lesen und Verstehen dieser Zeitungen war eine Kunst, die man in keiner Schule beigebracht bekam. Hinter den seitenlangen Berichten über die Ergebnisse des letzten Parteitages verbargen sich wichtige Informationen über die Zukunft des Landes, Intrigen der Macht, den Kampf zwischen den konservativen und liberalen politischen Kräften, doch all dies wurde zwischen bedeutungslosen Worthülsen und trockenen Formulierungen versteckt.
Viele Erwachsene betrieben das Deuten der Zeitung als eine Art Volkssport und behaupteten, zwischen den Zeilen lesen zu können – aber nur wenige beherrschten diese Kunst wirklich. Mein Vater fing gar nicht erst damit an. Er hielt sich von der Politik fern und abonnierte die Zeitung Sowjetischer Sport, weil er ein großer Sportsfreund war. Außerdem bezog er die Zeitschrift Za Rulem (Hinterm Lenkrad), obwohl keiner in unserer Familie einen Führerschein besaß, von einem Auto ganz zu schweigen. Wahrscheinlich erlaubte ihm die Lektüre dieser Zeitschrift, sich für kurze Zeit in einen Rennfahrer zu verwandeln, ohne dabei die eigene Küche verlassen zu müssen. Diese Eigenschaft von Printmedien, einem das Gefühl zu vermitteln, sich durch sie mit Themen auseinander zu setzen, mit denen man eigentlich gar nichts zu tun hat, ist ungebrochen. So kenne ich zum Beispiel etliche Berliner, die regelmäßig das Wirtschaftsmagazin Capital lesen, obwohl sie selbst keins besitzen, ja nicht mal über ein Bankkonto verfügen.
Ich, damals unsportlich und an Autos völlig uninteressiert, konnte mit der Lektüre meines Vaters wenig anfangen. Viel lieber las ich die Satirezeitschrift Krokodil, die ich einmal in der Woche aus dem Briefkasten des Nachbarn fischte und einen Tag später wieder hineinwarf. Von meinem ersten eigenen Geld abonnierte ich die Zeitschrift POBECHUK (Der Zeitgenosse), das Sprachrohr der offiziellen Jugendkultur – etwa wie die westliche SPEX, nur ein bisschen anders. Darin erschienen lauter lustige Berichte, die den Zweck hatten, den kapitalistischen Rock ’n’ Roll zu entlarven, und von den Jugendlichen immer mit großer Begeisterung aufgenommen wurden. So wurden im Zeitgenossen mehr oder weniger alle namhaften Bands abgestraft und 1981 sogar einmal die Beatles des Faschismus bezichtigt: »Die schlagenden Käfer – stoppt die Beatles«.
Ich glaube, die besten Kräfte der sozialistischen Journalistik haben damals für diese Zeitschrift gearbeitet. Noch heute erinnere ich mich mit Dankbarkeit an den Beitrag »Wohin rollen die Steine?« über das tragische Schicksal der Rolling Stones, die ihre Seele dem Kapital verkauften – und darüber, wie aus romantischen Musikanten drogensüchtige Helfershelfer des Imperialismus wurden. (Im Nachhinein kann ich nur sagen: Das stimmt eigentlich.) Ohne diesen Text hätte ich die Rolling Stones allerdings nie gehört. Sehr informativ und hilfreich waren auch Beiträge wie »Die faschistischen Satansbraten AC/DC« oder »Black Sabbath – Diener der CIA«. Nicht zuletzt aus diesen Artikeln bezogen wir unsere Kenntnisse über die fortschrittliche Rockmusik des Westens.
Drei Jahre lang abonnierte ich außerdem zusammen mit einem Freund die Zeitschrift Korea, eine sehr lohnende Investition. Sämtliche Kumpels standen Schlange, um Korea durchzublättern, und waren vor allem scharf auf die koreanischen Poster. Genau genommen gab es zwei nordkoreanische Zeitschriften in der Sowjetunion. Korea heute war eine dünne Propaganda-Zeitschrift mit schlechten Fotos und vielen sinnlosen Texten. Unser Favorit Korea dagegen war Glamour pur: ein dickes, niveauvolles Hochglanzheft, fast ohne Text und mit einem fetten Kim-Il-Sung-Poster in der Mitte. Einiges aus dieser Postersammlung habe ich bis heute aufbewahrt, etwa das Poster von einem dicken, rosigen Knirps, der in einer Schaukel liegt und einen Finger im Mund hat. »Der junge Kim Il Sung überdenkt in der Wiege die Pläne der kommunistischen Revolution« stand darunter. Auf einem anderen Poster fuchtelt der etwas ältere Knirps vor einer Gruppe bewaffneter Koreaner mit den Händen herum. Das Bild hieß »Kim Il Sung weist die Partisanen ein, wie sie am besten die Schurka-Kuppe stürmen«.
Während die sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften der Doppelzüngigkeit Vorschub leisteten, die Dinge aus Prinzip niemals beim Namen nannten und immer etwas im Schilde führten, traf der sozialistische Realismus nordkoreanischer Prägung mit seiner vollkommenen Verdrängung jeglicher Realität viele russische Künstler mitten ins Herz. Ich glaube, die gesamte russische Postmoderne ist nicht zuletzt aus dieser Zeitschrift entstanden. Als Gorbatschow Glasnost ankündigte, stiegen die Auflagen der meisten Zeitungen sprunghaft an, unter Jelzin schossen neue Blätter gar wie Pilze aus dem Boden. Nun war die echte Wahrheit angesagt, die ganze Wahrheit, so wahr wie nie zuvor, mit möglichst großen Lettern auf dem Titelblatt. Überall, wohin man blickte, wuchsen bunte Wahrheiten. Nicht mehr nur drei, sondern hunderte, aberhunderte, und sie waren alle scheußlich. Die süßen Lügen der Zeitschrift Korea, die nebulösen Formulierungen der Sowjetzeitungen gehörten für immer der Vergangenheit an. Jetzt regulierte die Nachfrage unseren frisch befreiten Markt, und die Zeitungen überboten sich mit Enthüllungen und Entlarvungen. Alle Geheimnisse wurden gelüftet, und je ekliger die Wahrheit, die ans Licht trat, umso höher war die Auflage.
Das Land stank zum Himmel. Die Menschen schluckten die Wahrheit über Vergangenheit, Gegenwart und die mögliche Zukunft ihres Landes – alles war gleich scheiße. Die meistgelesenen Zeitungen der Neunzigerjahre hießen Streng Geheim, Kriminalchronik, Argumente und Fakten und Speed Info, wobei es in Letzterer eher um Geheimnisse unpolitischer Art ging: Sex mit Tieren, Heilung mit nackten Händen, Blut- und Urin-Trinker. Jeder Tag brachte neue schreckliche Geheimnisse hervor, grausame Morde und Verbrechen, die aufgeklärt werden mussten. Das lesebesessene Volk raschelte mit Zeitungspapier, raschel-raschel in der Metro, raschel-raschel bei der Arbeit und zu Hause. Die Kriminalchronik konnte sich nicht satt fressen an den vielen Leichen, die Moskau und andere Großstädte in der heißen Phase der Perestroika zu bieten hatten. Die Menschen lasen mit Interesse, wer wen wie und wofür … eine Zeit lang gab es nur noch Boulevard am Kiosk – soliden und unsoliden.
Letzten Endes haben sich aber alle an diese ungeschönte Berichterstattung gewöhnt – so dachte ich jedenfalls. Als ich in diesem Herbst meine Heimatstadt besuchte, wollte ich mir gleich am Bahnhof eine Zeitung besorgen, um in die aktuelle Geheimnisproblematik einzusteigen. Am Bahnhofskiosk gab es aber nur Zigaretten, Viagra-Lutscher für 36 Rubel und dicke Fachzeitschriften mit ulkigen Titeln wie Treppen und Fahrstühle, Kamine und Öfen, Gold und Edelmetalle. Macht nichts, dachte ich, wahrscheinlich sind die anderen ausverkauft, ich bekomme sie bestimmt bei den Omas, die immer an den Metrostationen stehen. Aber auch die Omas hatten nur Zigaretten, Viagra und »Antipolizei«-Pillen, die jeden Fahreratem geruchlos machen, außerdem Treppen und Fahrstühle. Im Buchladen gab es ebenfalls keine Zeitung und in der Hotel-Lobby auch nicht.
Etwas hatte sich verändert. Die Wahrheit und die Lüge, die Geheimnisse des Kreml, die früher an jeder Ecke verkauft wurden, reizten die Bürger offenbar nicht mehr. Nur ein paar dicke Wirtschaftsmagazine sah ich und die kostenlose Moskauer Deutsche Zeitung, die in einem Café auslag. Die Zeitung in ihrer alten Form, als Werkzeug der Politik, als Meinungsmacher und Unruhestifter, diese Zeitung habe ich schließlich in einer Metrounterführung in der Hand eines Rentners gesehen. Alle zehn Sekunden, jedes Mal, wenn jemand an ihm vorbeiging, hielt er diese skurrile Marginalie hoch, und jedes Mal konnte ich einen Teil der fett gedruckten Überschrift entziffern: »Die Regierung … verkauft … unsere Leichen … an den Westen …« Die Zeitung hieß Morgen und sah aus wie die Prawda von damals, als wir noch die Korea lasen. Die Passanten machten einen großen Bogen um den Mann, als hätte er eine ansteckende Krankheit.
In der überfüllten Moskauer Metro liest man übrigens heutzutage gar nichts mehr, schon gar nicht eine Zeitung, dafür ist einfach kein Platz. Alle Passagiere standen eng wie die Heringe in einer Konservenbüchse und starrten vor sich hin. Nur ein junger Polizist hielt ein kleines Büchlein in der Hand. Sein Schnurrbart bewegte sich beim Lesen so heftig, als würde er den Text auswendig lernen. Neue Enthüllungen?, fragte ich mich und schaute auf das Titelblatt. Dort stand: »Limitierte Auflage: My Life in the Bush of Ghost«.