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Archiv-Artikel

„Unser Mutterbild ist noch faschistisch“

Die Dortmunder Soziologie-Professorin Sigrid Metz-Goeckel erklärt, warum die Geburtenrate in Nordrhein-Westfalen weiter sinkt. Ganztagesschulen und ein neues Rollenverständnis könnten die Gebärfreudigkeit wecken, sagt sie

taz: Die Geburtenrate in NRW war noch nie so niedrig wie heute. 2004 sank sie von einem Minusrekord im Vorjahr noch einmal um 1,4 Prozent. Kann man hier von einem Gebärstreik reden?

Sigrid Metz-Göckel: Dass Frauen immer öfter kinderlos bleiben, ist Ausdruck einer ganz widersprüchlichen Lebenskonstellation. Frauen sind inzwischen gleich gut, wenn nicht besser gebildet als Männer. Trotzdem bedeutet die Aussicht auf Kinder einen großen Bruch in ihrem Leben. Deshalb schieben sie die Kinderfrage immer weiter nach hinten. In den vergangenen dreißig bis vierzig Jahren hat sich das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes von 24 auf 30 Jahre verschoben. Und für viele ist es dann irgendwann einfach zu spät.

Ist das nicht eine Entscheidung, die man akzeptieren sollte?

Im Einzelfall muss man das akzeptieren, jede Frau sollte selbst entscheiden, ob sie ein Kind haben will. Gesellschaftlich ist es aber ein Problem, wenn es immer mehr Alte und immer weniger Junge gibt. Es wäre also töricht von der Politik, das hinzunehmen. Und es ist ja auch nicht so, dass Frauen keinen Kinderwunsch haben.

Warum realisieren sie diesen Wunsch nicht?

Ein Grund ist die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit. Aber auch gut verdienende Frauen können sich nicht für Kinder entscheiden. Das Arbeitsleben frisst sie auf, das gilt aber auch für Männer. Wissenschaftlich spricht man hier neuerdings von einer gestörten „Work-Life-Balance“. Kommen Kinder dazu, wird der Stress noch größer. Sobald das erste Kind da ist, rastet außerdem die alte geschlechtliche Rollenverteilung wieder ein, selbst bei Paaren, die sich vorher die Hausarbeit geteilt haben. Wenn Männer Väter werden, fällt ihnen auch der Staubsauger aus der Hand.

Wie kann das passieren?

Das Mutterbild in Deutschland stammt noch aus faschistischen Zeiten. Es herrscht die patriarchale Vorstellung, dass Mütter ganz und gar für ihre Kinder da sein müssen. Frauen, die arbeiten, werden noch oft genug als Rabenmütter abgestempelt. Und wenn Mütter zu Hause bleiben, müssen Väter sich als Alleinernährer besonders ins Arbeitsleben stürzen und haben keine Energie mehr für die Familie.

Die flächendeckende Einführung von Ganztagesschulen könnte diesem Trend entgegenwirken.

Das wird auf jeden Fall die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. Doch ist Deutschland damit reichlich spät dran. Ich war in Frankreich, wo es ganz normal ist, dass Frauen arbeiten. Der Kindergarten und auch die Schule sind ganztägig. Auch die Betreuung der Kleinkinder ist dort viel weiter ausgebaut, in NRW fängt man damit erst an. Wenn hierzulande über Ganztagsschulen diskutiert wird, bekommt das immer gleich einen ideologischen Charakter. Die Starrheit unserer Bildungsstrukturen ist einfach grauenhaft.

Ist es also die Reformierung des Bildungssystems, die zu mehr Kindern führen wird?

Das würde ich auf jeden Fall sehr hoch hängen. Aber was bringen Ganztagsschulen und der Ausbau der Unter-Dreijährigen-Betreuung, wenn wir an unserem faschistischen Mutterbild festhalten. Da muss in Deutschland noch viel Schutt abgearbeitet werden.

INTERVIEW: NATALIE WIESMANN