„Die Zahl der Armen nimmt eklatant zu“

Der Abbau des Sozialstaats geht vor allem zu Lasten der Arbeitslosen und Armen, kritisiert der Kölner Pfarrer Christoph Biskupek. Auch Caritas-Chef Franz Decker konstatiert eine zunehmende Stigmatisierung der Arbeitslosen als Schmarotzer, findet aber das Hartz-Prinzip vom „Fördern und Fordern“ richtig

Interview Susanne Gannott

taz: Herr Biskupek, in Ihrer Pfarrei Sankt Aposteln am Neumarkt geben Sie drei Mal in der Woche Essen an Arme aus. Wie kam es dazu?

Christoph Biskupek: Es sind immer Leute vom Neumarkt ins Pfarrbüro gekommen, die Essen haben wollten oder auch mal etwas Geld. Vor fünf, sechs Jahren wurden das dann immer mehr. Und wir mussten diesen Strom von Menschen irgendwie kanalisieren, sonst hätten wir unsere Arbeit nicht mehr machen können. Gleichzeitig wuchs bei den Mitgliedern der Gemeinde der Wunsch zu helfen.

Aposteln ist ja eigentlich eine Bürgerkirche, ein sakral-kulturelles Zentrum mit vielen Konzerten, Kunst und anderem. Das hat uns ein wenig den Ruf der „Seelsorge für Besserverdienende“ eingebracht. Das hat uns nicht so gefallen. Also haben wir überlegt, was wir tun können in der „Caritas“, das heißt in der Nächstenliebe. Daraus ist dann die Essensausgabe geworden: Montags, dienstags und donnerstags bekommen 60 bis 80 Leute bei uns ein Lunchpaket. Damit helfen wir übrigens nicht nur den Leuten, sondern auch uns. Weil wir uns so mit der Frage auseinander setzen, wie wir mit Menschen umgehen, die arm sind. Zumal das eindeutig mehr werden.

Sie können also bestätigen, dass Armut in Köln zunimmt?

Biskupek: Die Zahl der Armen hat nach meiner Einschätzung sogar eklatant zugenommen. Und zwar sind es nicht die Penner und Obdachlosen, die vermehrt zu uns kommen, sondern Leute, die nicht mit dem Geld auskommen, weil die Sozialhilfe einfach zu gering ist.

Franz Decker: Mit der Sozialhilfe kommt man aus, wenn man ein ganz disziplinierter Mensch ist. Aber „ausflippen“ und drei Kölsch trinken, wie das jeder von uns mal tut, das kann man sich als Sozialhilfeempfänger nicht leisten.

Biskupek: Einige Mitarbeiter beim Sozialamt sagen den Leuten ja sogar, wo es Essensausgaben und ähnliche Almosen gibt.

Wird Ihnen da nicht bang vor der Zukunft, wenn durch Hartz IV noch viel mehr Menschen auf Sozialhilfeniveau leben müssen?

Biskupek: Natürlich ist zu befürchten, dass es immer mehr Arme geben wird. Zwar können wir sicher auch mehr Spender für unsere Essensausgabe finden. Aber seit einiger Zeit fragen wir uns, ob wir damit überhaupt das Richtige tun. Wir helfen den Leuten zwar kurzfristig, aber mittel- bis langfristig ist das überhaupt keine Hilfe. Außerdem haben wir den Eindruck, dass der Staat solches ehrenamtliche Engagement inzwischen schon regelrecht mit einrechnet. So kommt bei uns langsam ein Mischsystem zustande, in dem der Sozialstaat immer mehr abbaut und die Wohlfahrtsträger an seine Stelle treten.

Decker: Der Staat hat die gesetzliche Verpflichtung, keinen Menschen verhungern zu lassen. Aber zur Zeit findet bei uns ein Paradigmenwechsel statt, auch unter dem Druck der Finanzlage. Und es ist ja auch richtig zu sagen: Wer arbeiten kann, soll das auch tun. Aber das Hartzsche Postulat vom „Fördern und Fordern“ ist natürlich zynisch, wenn es keine Arbeit gibt.

Aber im Prinzip ist es richtig, die Leute zur Arbeit zu zwingen?

Decker: Es ist richtig, die Leute in Arbeit zu bringen, sich um jeden persönlich zu kümmern. So wie es in Köln ja schon gemacht wird mit der passgenauen Vermittlung in den Jobbörsen. Nur: Wenn es keine Arbeit gibt, kann man auch keine vermitteln.

Biskupek: Aber trotzdem ist die Stimmung so, dass alles vom Missbrauch her gesehen wird.

Decker: Ja, ein Arbeitsloser ist in der öffentlichen Meinung eigentlich ein Schmarotzer.

Wenn Sie so kritisch über Hartz denken, warum macht die Caritas dann mit und bietet 1-Euro-Jobs an?

Decker: Weil wir denken, das bringt was – unter gewissen Bedingungen. Erstens, wenn klar ist, dass die Leute freiwillig kommen...

Aber das können Sie doch gar nicht beurteilen, wenn jemand zu Ihnen kommt.

Decker: Wir merken den Leuten, die uns geschickt werden, doch an, ob sie wollen.

Aber die werden jetzt alle so tun als ob. Schließlich droht ihnen sonst die Leistungskürzung.

Decker: Daran können wir natürlich nichts ändern. Die zweite Bedingung ist, dass die Jobs zusätzlich sind. Es geht natürlich nicht, dass eine Pfarre ihren Küster entlässt und dafür einen Arbeitslosen einstellt. Die katholischen Wohlfahrtsverbände in Köln haben sich daher diese Eckpunkte gesetzt, und wir müssen sehen, ob wir die durchsetzen können.

Gegenüber wem?

Decker: Gegenüber den Anbietern von solchen Jobs. Zum Beispiel Altenheimen und anderen. Die könnten doch jetzt versuchen, alle ihre Teilzeitkräfte zu entlassen und dafür 1-Euro-Jobber zu nehmen.

Genau das soll doch aber angeblich gar nicht möglich sein?

Decker (lacht): Man muss schon versuchen, das zu kontrollieren. Wir wollen das...

Biskupek: Man muss sich auch mal ansehen, wie das anderswo funktioniert. In Paris zum Beispiel gibt es solche Dinge schon seit 20 Jahren.

Decker: Das mit den „Zusatzjobs“ ist auch bei uns nicht etwas wirklich Neues, es gibt ja auch „Hilfe zur Arbeit“ oder ABM. Nur die Kombination aus staatlichem Druck und Anreizen ist neu. Aber das macht man mit seinen Kindern ja auch.

Sind Arbeitslose Kinder?

Decker: Nein. Aber der Satz vom Fördern und Fordern ist im Prinzip ein richtiger Satz.

Biskupek: Aber er könnte auch ein Euphemismus sein.

Könnte oder ist?

Biskupek: Vorsichtig formuliert: Es gibt eine ganz große Versuchung, sich unter diesem Etikett schadlos zu halten an den Bedürftigen. Im Grunde müssen die armen Menschen jetzt ausbaden, was haltlose Gewinnmaximierung und unsoziales Management angerichtet haben.

Das klingt ja nach richtiger Kapitalismuskritik!

Biskupek: Ja, das kann ich nicht abstreifen. Mir ist nicht plausibel, warum eine Firma wie Krupp lächelnd erklären kann, dass sie 1.000 Leute entlassen muss, obwohl sie ihren Gewinn gerade mehr als verdoppelt hat. Ich weiß, das ist Globalisierung. Aber ich habe einfach den Verdacht, dass da ein Ungleichgewicht herrscht. Dass die Wirtschaft nicht läuft, baden doch vor allem die Arbeitslosen aus – und die, die noch Arbeit haben und auch auf immer mehr verzichten müssen. Und man darf von der christlichen und katholischen Soziallehre her sicher fordern, dass die Lasten gerecht verteilt werden. Das soziale Gewissen ist kein „Abweichler“, wie die SPD ihre internen Kritiker nennt.