: Nachrichten aus einer Bauwagen-Siedlung

Selbst ausgebaute Wohnwagen reagieren viel sensibler auf die Bewohner, als es beim sozialen Wohnungsbau der Fall sein kann

Der brasilianische Philosoph Vilèm Flusser meinte einmal: „Das Wort ‚Wohnwagen‘ scheint sagen zu wollen, dass die Dialektik des unglücklichen Bewusstseins dabei ist, überholt zu werden, und dass wir dabei sind, glücklich zu werden.“

Trotz massenhaft leer stehender Häuser und Wohnungen entwickelte sich in Westberlin in den Siebzigerjahren unter den jungen Leuten ein starker Hang zu Wohnwagen, die sie sich ausbauten, um Leben und Mobilität miteinander zu verbinden. Auf den innerstädtischen Brachflächen entstand eine „Wagenburg“ nach der anderen. Nach der Wende wurden die meisten geräumt bzw. an den Stadtrand verfrachtet, gleichzeitig entstand jedoch ein großes Angebot an NVA-Lastwagen und DDR-Bauwagen.

Eine Rollheimer-Siedlung, neben dem Georg-von-Rauch-Haus am Kreuzberger Mariannenplatz, gibt es bis heute. Dort wohnen u. a. Mandy und Lia. Erstere erzählte mir einmal: „Lia, meine Freundin nebenan, ist viel unterwegs, ohne ihren Wohnwagen, aber meist zieht sie von Wagenburg zu Wagenburg, auch im Ausland. Sie ist noch als Studentin versichert, verdient ihr Geld aber im Puff in der Adalbertstraße. Ich geh da auch manchmal hin zum Anschaffen, wenn ich nichts mehr zu beißen habe. Das mach ich auch in anderen Orten so: Da wohn ich meist in einer Wohnwagensiedlung und guck mich dann nach einem Bordell in der Nähe um.

Das scheußlichste Erlebnis, das Lia und ich bisher hatten, war die gewaltsame Räumung der Wagenburg am Engelbecken. Aber dabei lernten wir Christian kennen, einen Jesuitenpriester, der in einer Wohngemeinschaft von ehemals Obdachlosen in der Naunynstraße lebt und als Schweißer bei Siemens arbeitet. Sein Freund, ebenfalls ein Jesuit, arbeitet in einem Taxikollektiv. Die beiden organisierten den Widerstand gegen die Räumung mit. Das war wiederum eine sehr schöne Erfahrung. Obwohl ich später fand, dass die beiden schon fast zu vorbildlich leben und arbeiten. Auf dem darauf folgenden Autonomen-Kongress im Mathematikinstitut der TU schälten sie für alle Teilnehmer Kartoffeln, damit sie zwischendurch eine warme Mahlzeit bekamen. Die asketische Einstellung der beiden Jesuiten, hat man mir mal erzählt, hat etwas damit zu tun, dass sie ihre ganze, ungeteilte Liebe den Sakramenten widmen sollen. Das finde ich aber auch übertrieben – männlich, ich weiß nicht …“

Nach der Räumung fuhr Mandy mit ihrem Wohnwagen erst einmal ins Allgäu. „Dort fand gerade in der Nähe das ‚Kornhausseminar‘ statt, wo unter anderem der Philosoph Vilèm Flusser einen Vortrag hielt – über die Küche der Zukunft. Am letzten Tag half ich ihm und seiner Frau noch stundenlang, ihren weggelaufenen Hund im Wald wieder zu finden – vergeblich. Abends kam er dann jedoch von selbst wieder zurück. Flusser hatte sich schon fast mit dem Tod seines Hundes abgefunden und tapfer jeden Anflug von Sentimentalität, wie er das nannte, niedergekämpft. Als ich wieder nach Berlin zurückfuhr, begleitete mich ein Wagenburgler von der East Side Gallery, die inzwischen auch schon lange geräumt ist. Seine Mutter arbeite in der taz, erzählte er mir. ‚Cool‘, meinte ich. ,Überhaupt nicht‘, antwortete er. Die hätten dort beispielsweise eine italienisch geführte Kantine und wenn ihn seine Mutter zum Essen mitnehme, würde die Bedienung sich weigern, ihm einen Teller hinzustellen – weil er zu schmuddlig aussehe. Seine Mutter würde sich daraufhin zwar jedes Mal beschweren, aber irgendwie sei sie doch derselben Meinung wie die Kellner.“

Mandys Eltern leben in Kaiserslautern, einmal besuchte ihre Mutter sie in der Wagenburg am Mariannenplatz. Sie war erschüttert, wie ihre Tochter dort lebte: „Schlimmer als die Zigeuner!“ Dabei war sie selbst aus ihrer Wohnung geflüchtet, weil sie es mit ihrem Mann, Mandys Vater, nicht mehr ausgehalten hatte. Aber auch Mandy ging es nicht gut. Sie fühlte sich von einigen Freiern regelrecht verfolgt: „Während der ganzen Zeit war mein Wagen eine Hochburg der Paranoia, die sogar Lia erfasste. Darauf folgte bei mir eine längere Phase der Euphorie – über die ansonsten nichts weiter zu sagen ist. Und dann überfiel mich eine Depression, die leider noch immer anhält und über die ich deswegen nichts erzählen will, um sie nicht noch realer zu machen, als sie ohnehin schon ist.

Aber jedes Mal hat sich der Zustand meines Wohnwagens verändert: Erst stand er schief, sodass einem laufend der Tee aus den Tassen schwappte; dann schloss die Tür nicht mehr richtig, sodass ich mich ständig beobachtet fühlte, und nun tropft es durchs Dach. Ich wette, bei meinem nächsten seelischen Zustand verziehen sich die Bodenbretter oder der Ofen rußt oder was weiß ich. Jedenfalls reagiert so ein selbst ausgebauter Wohnwagen viel sensibler auf seine Bewohner, als das beim sozialen Wohnungsbau jemals der Fall sein könnte.“  HELMUT HÖGE