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Archiv-Artikel

Der Intensivtäter von nebenan

ALARMSTIMMUNG Christian ist in der Siedlung Sonnenland in Hamburg-Billstedt aufgewachsen. Bei der Polizei gilt er als Intensivtäter, bei Laternenumzügen hilft er als Ordner aus. Ein Rundgang durch einen Stadtteil von schlechtem Ruf

„Soko Sonnenland“

Die „Sonderkommission Sonnenland“ kämpfe in Billstedt gegen „multi-ethnische Banden“, schrieb die Welt am 7. Mai. Vor allem die Hamburger Morgenpost berichtete daraufhin über „Terror-Gangs“ in Sonnenland.

■ Polizeisprecherin Ulrike Sweden sagt hingegen: „Nur wenige Verdächtige kommen aus der Siedlung Sonnenland.“ Die Soko heiße eigentlich „Besondere Aufbauorganisation Sola“ (BAO) und sei Ende April gegründet worden, um gegen 40 Personen zu ermitteln.

■ Zeugen seien systematisch eingeschüchtert worden, sagt Sweden. „Eine veränderte Kriminalitätslage war nicht der Grund, die BAO zu gründen.“  (hes)

VON HELGE SCHWIERTZ

Die Rolltreppe fährt vom U-Bahn-Schacht ans trübe Sonnenlicht im Osten Hamburgs. „Kriminelle Banden“ sollen hier „Angst und Schrecken“ verbreiten, berichteten Welt und Hamburger Morgenpost. Um dem „Terror der Gangs“ Einhalt zu gebieten, habe die Polizei sogar eine „Soko Sonnenland“ gegründet. Hochhäuser tauchen auf, auf dem Boden liegt die Verpackung einer Softair-Pistole – hier beginnt also die Siedlung, die der Soko ihren Namen gab.

Christian steht im Eingangsbereich des provisorisch anmutenden Pavillons, in dem das Stadtteilprojekt Sonnenland untergebracht ist, und raucht, wobei er versucht, den Qualm aus der Tür zu pusten. Da Christian mit 16 Jahren mehrere Straftaten in einem Jahr verübt hatte, wird er von der Polizei als „Intensivtäter“ eingestuft. Die damit verbundenen Kontrollen werden erst in einem Jahr eingestellt, wenn er 21 ist und das Jugendstrafrecht nicht mehr greift.

Christian ist ein ruhiger Typ, von seiner bulligen Statur her könnte er aber auch als Türsteher durchgehen. Die Soko Sonnenland, die in Billstedt gegen 40 Personen ermittelt, habe auch ihn und seine Kumpels im Visier, vermutet er. Dabei sei seine kriminelle Zeit vorüber. Die wirklich „kranken Typen“ – von denen einer aus Sonnenland komme – säßen längst im Gefängnis.

Mit seinen schwarzen Turnschuhen, der dunklen Jeans und dem blau-grau gestreiften Kapuzenpulli fällt er im Viertel so wenig auf wie in den Fußgängerzonen der Innenstadt. Angefangen hätten seine Probleme mit 13 Jahren und dem ersten Joint. Sieben Jungs seien sie gewesen. High waren sie immer. Er zeigt auf eine Straßenecke und einen eingezäunten Fußballplatz, wo sie früher Tag für Tag verbrachten. Ratsch-ratsch macht das Feuerzeug in seiner Hand, während er an fünfstöckigen Plattenbauten vorbei schlendert.

„Wir haben diesen Gangster-Wahn gelebt, haben diese Filme aus Amerika gesehen.“ Das war das Drehbuch, das sie im Kopf hatten. Ihre Vorbilder aus der Nachbarschaft stiegen in Wohnungen ein, knackten Autos, vertickten Gras.

Noch vor drei Jahren habe man an jeder Ecke etwas verkauft, Christian deutet auf einen Hauseingang und einen Treppenabsatz. Im Viertel gebe es öfters Schlägereien und Streit, das stimme. Mittlerweile sei es in Sonnenland aber ruhiger geworden. Was die Zeitungen jetzt schrieben, hätten sie vor drei Jahren schreiben müssen. „Es gibt keine Gang in Sonnenland.“ Das ist ihm wichtig.

Auf sein Viertel lässt Christian nichts kommen. „Ich bin auch stolz auf meine Kollegen“, sagt er. Sie seien eine Clique, führen gemeinsam an die Alster, gingen Grillen und fieberten mit dem HSV. Der Zusammenhalt im Viertel sei stark. „Wir sind eine Gemeinschaft. Wenn einer keinen Strom hat, klingelt er bei den Nachbarn.“

Die Straße führt unter einem Hochhaus durch, danach geht es weiter zwischen Einzelhäusern mit frisch gemähten Vorgärten. Eine Mutter lässt zwei Kinder aus ihrem neuen VW Polo aussteigen und lacht ihnen zum Abschied hinterher. „Sieht das hier kriminell aus?“, fragt Christian. Doch die Stigmatisierung des Viertels bekommt auch er zu spüren. „Mit der Adresse, hast du keine Chance“, habe sein Chef zu ihm gesagt. Wenn es nach den Zeitungsberichten ginge, ließe er auch kein Kind in Sonnenland zur Schule gehen, meint Christian: „Die Leute denken wohl, dass wir Abschaum sind.“

Als Christian zehn war, ist er mit seiner Mutter in die Sonnenland-Siedlung gekommen. Mit 17 hatte er „Stress“ und verließ das Viertel für ein Jahr, um bei „verschiedenen Kollegen“ zu leben – das Jugendamt habe sich in dieser Zeit nicht um ihn gekümmert. „Ich war der erste der weg ist, um zu sehen was es noch gibt“, sagt Christian.

Als er wiederkam und seine Freunde sahen, wie er mit seiner Arbeit Geld verdient hatte, habe sie das motiviert. Die meisten hätten allerdings keine Perspektive. Ihnen fehle die nötige Unterstützung, die er im richtigen Moment bekommen habe.

Es geschah, bevor er das eine Jahr wegging. Christian verbrachte den Tag bekifft im Stadtteilprojekt, als ein Betreuer zu ihm sagte: „Du spielst hier kein Billard, bevor du dich nicht 15 Minuten an den Computer setzt und nach einem Ausbildungsplatz suchst.“ Ohne Erwartungen bewarb er sich beim noblen Restaurant „Le Paquebot“ – und hatte Erfolg. Wenn er im Dezember seine Ausbildung zum Koch abgeschlossen hat, möchte er nach Spanien und Österreich, arbeiten. „Ich will die Welt sehen“, sagt er.

Einen Ausbildungsplatz hatte sein bester Freund auch – bis er für drei Tage bei der Polizei in Arrest ging. Dadurch verlor er die Lehre und damit die Chance, die Vierzimmerwohnung seiner achtköpfigen Familie zu verlassen.

Ein anderer Bekannter hat noch größere Probleme. Nachdem er im Viertel jemanden – angeblich aus Versehen – mit einem Messer gestochen hatte, wurde seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Als der junge Vater und ausgebildete Maler dann aber erwischt wurde, wie er gegen ein Auto trat, musste er für seine zweijährige Strafe ins Gefängnis.

Mit einem Hip-Hop-Beat von Missy Elliott kündigt Christians Handy ein Gespräch an. Eigentlich ruft ihn ständig jemand an. Vage Verabredungen für diesen Freitagabend. Richtig ausgehen kann er aber nicht: Die rund 300 Euro Ausbildungsgehalt für den Monat sind weg, das Kindergeld für ihn ist noch nicht da, der Kühlschrank leer.

Sein Zimmer möchte Christian auch zeigen – als weiteren Beweis, dass er ein normales Leben führt. Zwei große Deutschlandfahnen hängen an der Wand, zwischen ausrangierten Sperrholzmöbeln und dem selbst gebauten Bett. Neben der Stereoanlage steht ein gerahmtes Bild von seiner Freundin. Sie wohnt nicht in Sonnenland, sondern in Pinneberg. Anderthalb Jahre seien sie zusammen. Christian sitzt auf dem Bett, raucht selbst gedrehte Zigaretten und erzählt von „Geschäften“ und der Polizei – mit beidem will er nichts mehr zu tun haben. Neben ihm liegt einer seiner beiden getigerten Kater. „Die haben eher etwas zu Essen als ich.“

Auf dem Rückweg zur U-Bahn-Station steht eine alte Lore mit Gedenktafel an der Seite. Beiläufig erzählt Christian, wie er mitgeholfen hat, dieses Mahnmal für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu errichten. Jetzt erzählt er auch, dass er einen Jugendgruppenleiterschein gemacht hat. Wenn sie im Stadtteilprojekt jemanden brauchen, helfe er gerne aus. Bei Laternenumzügen ist er als Ordner dabei oder kümmert sich um das Essen in der Mittagskantine, wo man für zwei Euro eine warme Mahlzeit bekommt.

Auf sein Viertel lässt Christian nichts kommen. Trotzdem möchte er, wenn er aus dem Ausland wiederkommt, nicht wieder zurück nach Sonnenland, denn: „Wenn du dein Leben lang hier bist, geht das auf den Sack.“