: Stressige Nächte
KNIRSCHEN Wenn der Kiefer nachts arbeitet, sind Kopfschmerzen am nächsten Tag vorprogrammiert. Das Zähneraspeln kann langfristig Verspannungen in Nacken und Rücken sowie Haltungsschäden verursachen
GÜNTER HERRE, KIEFERORTHOPÄDE
VON BARBARA NEUKIRCHINGER
Viele stressgeplagte Menschen kennen das Phänomen nur zu gut: Morgens beim Aufstehen verspüren sie Zahnschmerzen, die sie sich erst nicht erklären können. Der Zahnarzt diagnostiziert dann oft Zähneknirschen. Denn gerade nachts, wenn wir unseren Körper am wenigstens kontrollieren können, entlädt sich der angestaute Stress im unablässigen Raspeln.
Stress ist aber nicht immer der Auslöser. Abgesehen von psychischen Gründen können auch körperliche Ursachen das nächtliche Knirschen hervorrufen. Das betrifft vor allem Patienten, bei denen sich durch einen Zahnersatz das Kiefergelenk verschoben hat.
Im Kiefer selbst ist in einer verknirschten Nacht viel los. Laut Günter Herre, Kieferorthopäde aus Hamburg, ist oft die Stellung der Zähne nicht so, wie sie optimal sein sollte. Bei richtiger Verzahnung beißen die Seitenzähne wie bei einem Reißverschluss ineinander. Die Vorderzähne sollten idealerweise die Bewegungsfreiheit haben, das Gebiss durch Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen zu führen.
Zähne, die sich jedoch im Weg sind, sowie so genannte Zahnhöcker stören die normalen Bewegungen – das Knirschen entsteht. Dadurch verspanne sich auf Dauer die Kiefermuskulatur, sagt Herre. Die dadurch entstehenden Beschwerden bleiben meist nicht lokal begrenzt, sondern strahlen auf den ganzen Körper aus.
Die Folge können Kopfschmerzen oder Verspannungen des Nackens, der Schulter und des Rückens sein. Sogar auf die Haltung der Beine kann sich das Zähneknirschen auswirken. Die Hamburger Physiotherapeutin Susanne Gundelach kennt diese Symptome aus ihrer Praxis. „Viele Probleme im Bereich des Körpers kommen von den Kiefergelenken. Sie können Ursache für ganz vieles sein“, sagt Gundelach. Als Physiotherapeutin versuche sie, die Kiefermuskulatur ihrer Patienten zu entspannen.
Oft arbeiten deshalb Kieferorthopäde und Physiotherapeut zusammen, wenn es daran geht, das Knirschen zu beheben. Wird bei einem Patienten eine entsprechende Diagnose erstellt, stellt der Kieferorthopäde zunächst eine Aufbiss-Schiene her. Damit der Patient „die Zähne nicht kaputt knirscht“ und sich die Muskulatur wieder entspannen kann, wird Günter Herre zufolge die Schiene nachts eingesetzt. Herstellung und Einschleifen der Schiene erfolge dann mithilfe des Physiotherapeuten.
Nachdem im weiteren Verlauf die optimale Zahnstellung festgestellt wurde, werden beschädigte Zähne mit künstlichen Kauflächen aus Kunststoff oder Keramik restauriert oder neue Kronen angepasst. Parallel zur kieferorthopädischen Behandlung erstellt der Physiotherapeut einen eigenen körperlichen Befund und befragt die Patienten zu ihren Beschwerden. Das verspreche zwar keine Abhilfe von den psychischen Problemen, helfe aber bei der Entspannung, sagt Susanne Gundelach. „Auch bei psychischen Problemen kann man den Körper behandeln, um Entlastung zu schaffen.“
Je nach Befund rät die Physiotherapeutin zu unterschiedlichen Therapien. Bei dem einen Patienten ist eine Massage das Richtige, der andere wird besser mit Wärme behandelt. Außerdem können individuell abgestimmte Entspannungsübungen entwickelt werden, die der Patient dann eigenständig anwendet.
Doch letztendlich gilt: Wenn Menschen dauerhaft unter großem Stress leiden oder ernste psychische Probleme vorliegen, ist langfristig eine therapeutische Hilfe angemessener. „Denn den Stress kann der Zahnarzt dem Patienten leider nicht nehmen“, sagt Herre. Betroffene müssten entweder lernen, mit der Belastung umzugehen oder einen Psychologen aufsuchen. Denn der Stress, glaubt Herre, werde in diesen Zeiten immer mehr.