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Archiv-Artikel

Der Gewinner von Köln

Heute startet die neue Staffel von „Wer wird Millionär?“ (RTL, 20.15 Uhr). Man kann dort auch gewinnen, wenn man schon verloren hat. Eine wahre Geschichte in zwei Teilen

VON STEFAN KUZMANY

Wenn er anruft, haben Sie Glück gehabt. Es wird Ihnen das Herz stehen bleiben, kurz, und einen kleinen Schweißausbruch werden Sie haben, das Gesicht rötet sich, alles gleichzeitig, gewöhnen Sie sich daran, das wird Ihnen demnächst noch öfter passieren. Sie werden keine Ruhe mehr haben. Es wird nachmittags passieren, Sie denken nicht daran, dass es passieren könnte, es ist zu unwahrscheinlich, ein Tagtraum nur. Und dann klingelt das Telefon. Das Display zeigt eine Kölner Nummer.

„Guten Tag, Niklas Mertens von Endemol. Sie haben sich bei Werwirdmillionär beworben?“

Sie werden schwitzen

Er spricht den Namen der Sendung etwas seltsam aus, als bestünde der nur aus einem einzigen Wort, nicht drei, nicht aus der Frage „Wer wird Millionär?“, die Sie, als Sie sich als Kandidat beworben haben, in Ihrem Tagtraum mit „Ich!“ beantworteten, sondern wie ein einziges Wort, „Werwirdmillionär“, mit starker Betonung auf dem ersten „i“ des Wortes Millionär. Das klingt seltsam, aber das tun sie dort alle, bei der Produktionsfirma Endemol, denn nur für Sie handelt es sich bei diesen drei Worten um eine Frage, aber für die Kandidatenbetreuer wie Niklas Mertens ist das keine Frage, es ist ihr Job, und die Frage ist ein Produkt: seit September 1999 im deutschen Fernsehen, moderiert von Günther Jauch (48), dem beliebtesten deutschen TV-Gesicht, gesehen von regelmäßig mindestens sechs Millionen Zuschauern jeden Freitag, Samstag und Montag. Und weil er Sie angerufen hat, werden Sie dabei sein. Und möglicherweise bald reich. Sie werden hastig drei Menschen zusammensuchen, die möglichst viel wissen, um sie als Telefonjoker anzugeben. Sie werden mit Freunden die Möglichkeiten erörtern, Ihre Chancen zu erhöhen: vielleicht sollte ein Telefonjoker ein Telefon mit Lautsprecher verwenden, damit nicht nur er allein, sondern ein ganzes Kompetenzteam die Frage beantworten kann. Ganz sicher sollten alle drei Telefonkandidaten Weltkarten in Griffweite haben und vielleicht die letzten Medaillenspiegel und vielleicht auch noch ein Tierlexikon. Sie werden die Frage erörtern, ob man das Klackern einer Computertastatur durch das Telefon hören kann und ob es da nicht geräuschlosere Möglichkeiten gibt. Und Sie werden eine Person Ihres Vertrauens bitten, mit Ihnen nach Köln zu reisen, zur Aufzeichnung, um Ihnen die Hand zu halten und den Schweiß abzutupfen von der Stirn oder einfach nur da zu sein, und nach zehn Tagen und zehn Nächten, in denen Sie verdammt wenig schlafen werden, weil Sie schlaflos die Million schon verteilen auf Anschaffungen, Reisen, Geschenke und Schuldentilgung, sitzen Sie in einem Zug und fahren Richtung Köln. Sie werden wenig Sinn für die Aussicht aus dem Zugfenster haben, stattdessen in aktuellen Zeitungen blättern und in der aktuellen aktuellen, für den Fall, dass eine Frage zum dänischen Königshaus drankommt. Die bleiche Gestalt, die da eine Reihe vor Ihnen sitzt und ebenfalls nervös in Zeitungen blättert, das ist auch ein Kandidat – davon können Sie ausgehen. Die Kandidatenbetreuer buchen die Zugtickets gruppenweise. Aber sprechen Sie besser nicht miteinander: Sie werden sich nur noch verrückter machen, als Sie sowieso schon sind.

Sie werden verrückt

Sie werden selbstverständlich doch miteinander sprechen, und also vollends verrückt kommen Sie schließlich an: im Aufzeichnungsstudio von „Wer wird Millionär?“, gelegen im Medienindustrievorort Köln-Hürth.

Da werden Sie Niklas Mertens dann das erste Mal in Person sehen, und Sie werden sich vielleicht ein wenig wundern, dass er nicht so aussieht, wie Sie erwartet haben, dass einer so aussieht, der Niklas Mertens heißt. Sie haben nicht einen erwartet mit strahlenden Augen in einem dunklen Gesicht. Aber das werden Sie übersehen, es ist Ihnen egal, Sie sind aufgeregt, denn heute geht es um die Million. Man wird Sie noch mal über die Regeln aufklären, die Sie doch längst kennen. Man wird Sie darauf aufmerksam machen, dass Tricks, die Sie sich möglicherweise überlegt haben, den Einsatz von Lautsprechertelefonen beispielsweise, bemerkt werden und zu Ihrer Disqualifikation führen. Möglicherweise werden Sie danach schnell und diskret einen Ihrer Telefonkandidaten anrufen wollen. Man wird Sie einweisen in die Bedienung der kleinen Box, vor der Sie später sitzen werden, um die Antworten der Auswahlfrage in die richtige Reihenfolge zu bringen. Sie werden Ihre mitgebrachte Garderobe der Kostümspezialistin vorführen, die wird prüfen, ob sie nicht etwa zu kleinkariert ist oder farblich ungeeignet für die Fernsehübertragung. Man wird Sie pudern und frisieren. Und dann werden Sie warten, nur noch zwei Stunden, aber diese zwei Stunden werden lange dauern. Sie werden Ihre Mitkandidaten prüfend betrachten und diese Sie, Sie werden miteinander sprechen, aber nicht ins Gespräch kommen, denn Sie werden sich gegenseitig belauern – Sie sind Konkurrenten. Sie werden feststellen, dass die anderen allesamt viel mehr wissen als Sie, wer als Letztes den Vorsitz in der Europäischen Union hatte und wer diesen lächerlichen Popsong singt, der da gerade im Radio läuft. Sie werden feststellen, dass Sie keine Ahnung haben, von nichts. Sie spüren Panik. Sie werden sich eine ruhige Ecke suchen, aber keine Ruhe finden. Und sollten Sie Raucher sein: sie werden rauchen wie nie zuvor.

Kurz bevor es losgeht, wird Ihnen Niklas Mertens noch mal Glück wünschen, aber Sie werden ihn kaum hören.

Und dann sitzen Sie im Studio, im Kreis mit Ihren zehn Konkurrenten, und dann wird Ihnen Günther Jauch eine Frage stellen, und Sie werden versuchen, die vier Antworten mit den vier Knöpfen auf dem Kästchen vor sich in die richtige Reihenfolge zu bringen, und wenn Sie Pech haben, vertauschen Sie die Antworten und werden die nächsten 45 Minuten damit verbringen, einer sympathischen Drogeriemarktkassiererin aus Laufach bei Aschaffenburg aus nächster Nähe dabei zuzusehen, wie sie 500.000 Euro gewinnt. Nichts gegen die sympathische Drogeriemarktkassiererin aus Laufach bei Aschaffenburg, aber das hatten Sie sich anders vorgestellt.

Beim Verlassen des Studios wird Ihnen Niklas Mertens aufmunternd auf die Schulter klopfen, aber das werden Sie nicht merken, denn Sie wollen jetzt nur noch raus, auch an der bereits unterschriebenen RTL-Autogrammkarte von Günther Jauch, die Ihnen jemand am Ausgang in die Hand drücken will, haben Sie kein ausgeprägtes Interesse. Vergessen Sie nicht, Ihre Telefonkandidaten anzurufen und ihnen zu sagen, dass sie nicht mehr vor dem Telefon ausharren müssen. Bei dieser Gelegenheit werden Sie das erste Mal mit dem Mitleid konfrontiert werden. Sie werden noch oft hören, dass es sehr schade ist, aber auch nicht so schlimm und Kopf hoch. Sie schämen sich.

Sie werden Kölsch trinken

Dann, nur eine halbe Stunde später, sitzen Sie an der Bar des Mediahotels in Köln-Hürth, wo Sie die Nacht verbringen werden, sitzen da gemeinsam mit den anderen Kandidaten, die eben noch Ihre Konkurrenten waren, und mit deren Begleitpersonen, die jetzt nicht mehr die Aufregung kurieren müssen, sondern die Enttäuschung, und trinken Kölsch aus diesen kleinen praktischen Gläsern, die nach zwei Schlucken schon leer sind, bestellen noch ein Kölsch und noch eins und noch ein weiteres und die Gläser sind leer und Sie selbst sind auch leer, und die anderen Kandidaten schwadronieren davon, dass sie dieses doch gewusst hätten und jenes auch, wenn man ihnen nur die Chance gegeben hätte, und Sie schwadronieren mit und bestellen sich noch ein Kölsch. Es ist weit nach Mitternacht, und Sie denken gerade daran, dass es vernünftig wäre, jetzt ins Bett zu gehen, Sie stutzen im doch schon reichlich benebelten Kopf Ihren Kontostand auf Normalzustand und verteilen Ihr Geld auf Miete und einen neuen Kühlschrank und die fällige Autoreparatur und fragen sich wie jeden Tag, ob das alles gleichzeitig eigentlich bezahlbar ist, und dann taucht Niklas Mertens auf, Ihr Kandidatenbetreuer, setzt sich neben Sie an die Bar, bestellt ein Weißbier, lächelt strahlend aus seinem dunklen Gesicht, und Sie denken sich: Dieser Typ hat mir jetzt gerade noch gefehlt.

(Fortsetzung morgen)