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Archiv-Artikel

Frau Ypsi und Herr Lon

VON KATHRIN SCHMIDT

Frau Ypsi trug eine Flotte Lotte vor sich her, als sie die Zeitung entdeckte, die da im Papierkorb vor sich hin dümpelte und das Datum des heutigen Tages trug. Frau Ypsi konnte das genau erkennen, denn auf ihrer Nase saß die Fernsichtbrille, als sie vorbeiging. Sie sah sich verstohlen um, und als kein Mensch in der Nähe zu sehen war, der hätte Anstoß nehmen können an ihrem Verhalten, eine gebrauchte Zeitung aus einem städtischen Papierkorb hervorzukranschen, tat sie es. Stopfte sie einhändig in ihre Umhängetasche, denn die andere Hand war ja von der Flotten Lotte okkupiert; die steckte in einem Pappkarton, um den die Verkäuferin einen Strick gewickelt und zu einer Schlaufe verknotet hatte. Frau Ypsi trug die Schlaufe ums Handgelenk. Sie kaufte sehr gern im Haushaltwarengeschäft Mayer ein. Daß dort noch Stricke um die Verpackungskartons geknotet wurden, löste immer eine eigenartige Welle des Erinnerns in ihr aus, die sich, nachdem sie sie durchrauscht hatte, in konzentrischen Kreisen fortsetzte. Sie wurde zu deren Mittelpunkt und sah, wie die Gegenstände in ihrer Umgebung beinahe unmerklich abhoben und wieder aufsetzten. Auch eine Gänsehaut überzog sie in Wellen. Sie sah sich mit ihrer Mutter am Verkaufstisch des Mayer-Ladens stehen. Fünfzig Jahre war das jetzt her. Die Mutter hatte schließlich einen Karton mit einer Flotten Lotte nach Hause getragen, für die sie ein Weilchen gespart hatte. Letzte Woche, mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod der Mutter, war diese Flotte Lotte entzweigegangen, eine vernietete Stelle hatte sich aufgetan und das Gerät unbrauchbar gemacht, so daß sie nun eine neue gekauft hatte. Ein Weilchen gespart hatte sie auch, denn es war eine Marken-Flotte-Lotte aus Edelstahl und nicht so ein billiges Ding, das nach fünfmal Abwaschen die ersten Roststellen zeigte.

Eine Tageszeitung hielt sie sich nicht mehr, seit sie arbeitslos war und, wie sie ahnte, bleiben würde, bis ihre Rente sie erlöste. Aber das waren noch mindestens sieben, acht lange Jahre, und manchmal, wenn sich im städtischen Papierkorb eine Zeitung zeigte, griff sie schon zu, um sich ein schönes Kaffeestündchen zu machen. Das tat sie an solch einem Tage zwischen fünf und sechs. Sie hatte sich genau ausgerechnet, wieviel Kaffee sie verbrauchte, wenn sie morgens zwei Tassen trank – und hatte es aufgegeben. Der Blutdruck mußte als Argument herhalten, doch den kannte sie gar nicht, denn so oft ging sie nicht zum Arzt. Am späten Nachmittag aber, wenn solch ein Tag ihr eine Zeitung beschert hatte mit einem Rätselteil und einer Abteilung Vermischtes und all den politischen Nachrichten, die sie mit großer Emsigkeit ebenfalls las, war es ihr ein tiefer Genuß, sich zwei große Tassen Kaffee zu gönnen.

Heute früh hatte sie schon Kartoffeln und ein Bund Suppengrün gekocht und freute sich unbändig darauf, die neue Flotte Lotte ausprobieren zu können. Eine wunderbare Kartoffelsuppe kam heraus, mit Salz und Maggi wurde abgeschmeckt, und zur Feier des Tages öffnete sie ein Päckchen H-Schlagsahne, die sie unterrührte. Der Kaffee wurde mit dem alten Melitta-Filter gebrüht, den ihre Mutter irgendwann einmal von ihrer Schwester aus dem Westen geschickt bekommen hatte. Ein Platzdeckchen zierte den Tisch, auf dem der geblümte Suppenteller neben dem Kaffeepott zu stehen kam, und als sie aufgeschöpft und eingegossen hatte, sog sie die Aromen erst einmal ein, die ihre Vorfreude noch steigerten. Vor dem ersten Löffel, dem ersten Schluck, entfaltete sie die Zeitung, um sich dann den wechselnden Genüssen hinzugeben.

Auf Seite eins wurde die Kriegführung der Amerikaner im Irak in einer sie überraschenden Art und Weise gerügt – Frau Ypsi hatte derartige Stellungnahmen eigentlich erst auf Seite zwei oder drei erwartet. Da, wo sie hingehörten. Wenn ihre Gedanken spazieren gingen, dann kam es schon vor, daß sie sich als ältliches Fräulein in einer Stadt wie Falludscha zurechtfinden musste und wo sie Frauen und Kindern zu essen anbot. Kartoffelsuppe, mit der neuen Flotten Lotte fabriziert, oder heiße Würstchen mit Senf. Seit ihr Fernsehgerät kaputtgegangen war und sie die Reparatur Monat um Monat aufschob wegen anderer, meist unvorhergesehener Ausgaben, fehlten ihr die Bilder zu den fremden Städten. Was ihr Kopf ihr vorspielte, nahm sie als Realität, und wenn, wie heute, ein Foto in der Zeitung dazu beitrug, ein Stückchen vermeintlicher Wirklichkeit unterzumischen, sah sie sich fortan in den abgebildeten Kulissen herumstreichen. Bis das nächste Foto in einer der nächsten Zeitungen für Ablösung sorgte. Eine gute Seele hatte sie ihre Lehrerin immer genannt, weil sie für Hartmut Lämmerhirt getragene Hosen ihres Bruders mitgebracht und Lutz Müller mit den sieben Geschwistern von ihrem zusammengesparten Taschengeld ein Eis spendiert hatte, und darauf war sie noch heute, da sie in Falludscha als Heilsbringerin unterwegs war, stolz.

Sie löffelte. Der Genuß kommt beim Essen, hatte ihre Mutter immer gesagt, aber das stimmte nicht ganz, denn Frau Ypsis Genuß nahm während des Essens mit fortschreitender Sättigung ab und machte einer stillen, satten Zufriedenheit Platz, in der den letzten Löffeln manchmal gar kein Raum mehr blieb und der Rest für den kommenden Tag zurück in den Topf wanderte. Heute aber schaffte sie ihr Süppchen. Holte sich schließlich den zweiten Pott Kaffee und überflog die Sportseiten, die einzigen, die ihr Interesse nicht ganz so fesselten. Es sei denn, es war ein längerer Beitrag über die rhythmische Sportgymnastik abgedruckt. Das passierte aber selten, denn rhythmische Sportgymnastinnen hatte das Land fast keine mehr, und große internationale Meisterschaften fanden nur zwei Mal im Jahr statt. Daß sie ausgerechnet an den jeweiligen Folgetagen eine Zeitung ergatterte, war mehr als unwahrscheinlich. Als Frau Ypsi die Heiratsanzeigen, wie ihre Mutter sie immer genannt hatte, erreichte, wollte sie sie mit gewohnter Prüderie und einem arroganten Aufschneuzen übergehen, aber ihre Augen ankerten unversehens an einem schwarz gerahmten Inserat mit fettem erstem Wort: Halt! Und tatsächlich machte sie halt und las weiter: Herr Lon, 55, gut gebaut, Vietnamese, sucht gleichaltrige Partnerin. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Eine seltsame Unruhe erfasste Frau Ypsi, die an Heiraten nie in ihrem Leben gedacht hatte. Nicht einmal, als Burkhart hinter ihr her gewesen war und es einmal fast geschafft hätte, sie zu überreden, mit ihm tanzen zu gehen. Fast, denn als der Tag gekommen war, hatte sie unter starker Übelkeit und Rumoren im Bauch gelitten, so daß Burkhart alleine hatte hingehen müssen und am nächsten Tag mit dem Mädchen, das er dort kennengelernt hatte, vor ihr posierte. Sie hatte ihm interessiert in die Augen gesehen und sich gewundert über die Geringschätzung in seinem Blick.

Herr Lon. Vietnamese. Sie sah sich plötzlich in Ho-Chi-Minh-Stadt, hatte sogar eine genauere Vorstellung davon, denn früher, als noch der Name Saigon galt, hatte sie einen Film über den Einzug der Nordvietnamesen gesehen, der ihr nachdrücklich in Erinnerung geblieben war. Herr Lon griff nach ihrem Arm und zog sie hinter sich her, verschwand mit ihr in einer kleinen Gasse und hielt ihr dabei die Augen zu, die sie erst wieder öffnen durfte, als sie in seinem Elternhaus angekommen waren. Eine kleine, alte Frau zog das rechte Bein hinter sich her, als sie zur Begrüßung aus dem Haus kam. Sie weinte vor Rührung über die deutsche Schwiegertochter und rief laut nach ihrem Mann, der hinter einem Mauervorsprung gesessen und mit einem anderen Alten offenbar ein Brettspiel gespielt hatte. Die beiden alten Leutchen verbeugten sich unzählige Male vor Frau Ypsi, und als sie wenig später ein kleines Tischchen nach draußen unter das Vordach des Hauses gestellt und Tee darauf angerichtet hatten, bediente sich Frau Ypsi. Mit dem ersten vermeintlichen Schluck schon kehrte sie zurück von ihrem Ausflug, denn ihr schmeckte der Kaffee nicht mehr, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie stellte die Tasse ab, holte sich einen Bogen von ihrem guten, selten benutzten Briefpapier sowie ein längliches, gefüttertes Kuvert und begann, an Herrn Lon zu schreiben. Ja, sie sei gleichaltrig, und nein, ob er gut gebaut sei, sei ihr egal. Auf einmal wunderte sie sich, daß sie keine Kinder und demzufolge natürlich auch keine Enkel aufzuweisen hatte – etwas, was die ganzen Jahre unterhalb der Schwelle ihrer Aufmerksamkeit verharrt und stillgehalten hatte, und auch jetzt war die Verwunderung darüber von einer erstaunten Leichtigkeit und ohne Bedauern. Sie sei ganz und gar alleinstehend, -sitzend und -liegend, und wenn man einmal von den früheren Kollegen absehe, die fast alle aus der Sparkasse rausgeflogen seien, weil die wenigsten Abschlüsse als Finanzkaufleute vorzuweisen hatten, so habe sie in ihrem Leben nur wenige Menschen gekannt, mit denen sie regelmäßig zu tun gehabt hätte. Frau Mayer aus dem Haushaltwarenladen zählte sie dazu, die noch junge Ehefrau des Enkels jener Frau Mayer übrigens, die ihre Mutter vor fünfzig Jahren bedient hatte. Zu ihr ging sie einmal die Woche, um sich die sehr oft wechselnden Auslagen des Geschäfts anzuschauen und ein Schwätzchen mit ihr zu halten. Genügend Zeit hatten sie beide dafür, denn viele Leute verirrten sich nicht in den kleinen Laden. Daß sie sich heute eine Flotte Lotte gekauft hatte, gehörte zu den Außerordentlichkeiten in ihrem regelhaften Leben, und eine weitere Außerordentlichkeit, der Brief an Herrn Lon, und nun folgte mit dem Brief an Herrn Lon gar eine weitere. Sie unterschrieb den Bogen mit Sehr herzlich – Ihre Frau Ypsi, drittelte ihn mit Hilfe des Lineals, faltete ihn in das zuvor beschriftete Kuvert und klebte eine rote Briefmarke darauf. Eine davon hatte sie immer zu Hause, mehr lohnten nicht. Als sie den Brief eingesteckt hatte, in den Briefkasten vor dem Postgebäude, leistete sie sich die dritte Außerordentlichkeit des heutigen Tages: Sie begab sich in die oberhalb des Marktplatzes gelegene Kneipe Bayerischer Hof und genehmigte sich einen Eierlikör.

Von da an wartete sie. Die Zeitung mit dem Inserat legte sie griffbereit, man weiß ja nie!, auf den kleinen Ablagetisch neben ihrem Lieblingsohrensessel.

Ihre Gedanken spazierten nun seltener durch Falludscha oder Bagdad, sondern durchwanderten jetzt Ho-Chi-Minh-Stadt und Hanoi, Hue und Da Nang, machten in kleinen Fischerdörfern des Mekong-Deltas Halt und suchten in den Bergen nach Angehörigen des Hmong-Volkes, von denen sie einmal gelesen hatte, als sie ihre Zeitung noch bekam. Eine Antwort von Herrn Lon blieb aus. Dennoch bekam er langsam deutliche Züge, sie erkannte ihn allmorgendlich als jenen älteren Herrn wieder, von dem sie sich kurz vorm Einschlafen am Abend zuvor verabschiedet hatte. Tagsüber tauchte er hin und wieder zwischen Putzen, Kochen und Stricken auf, aber wenn sie hinausging, um sich die Beine zu vertreten, begleitete er sie die gesamte Zeit über und unterhielt sich mit ihr, was zu hinterhältigem Kichern und lautem Lachen bei jenen Leuten führten, die Frau Ypsi währenddessen begegneten. Als ihr einmal die Leiterin der Volkssolidarität des Städtchens über den Weg lief, blieb diese einen Augenblick stehen, griff nach ihrem Notizbuch und notierte Fr. Ypsi – verkalkt?, was sie innerhalb der nächsten Zeit mit Hilfe der ortsansässigen Ärztin zu klären hoffte. Frau Ypsi aber wurde mit jedem Tag der Begleitung durch Herrn Lon ein wenig mehr durch Selbstsicherheit und Stattlichkeit erleuchtet. Ihre vormals eingezogenen Schultern hatten sich aufgerichtet, was sie zweieinhalb Zentimeter wachsen ließ, und ihr Schritt griff weiter und kraftvoller aus. Sie sah beim Laufen nicht mehr zu Boden, sondern hielt den Kopf aufrecht und wandte ihn hin und wieder dem neben ihr gehenden Herrn Lon zu. Auch Herr Lon wurde mit jedem Tag schöner und stattlicher. Er war schon fast so groß wie Frau Ypsi, seine Beine hatten einen enormen Muskelumfang und sein Haar, das anfangs kurz und grau gewesen war, wuchs sich nun kohlrabenschwarz zu einer regelrechten Mähne aus. Ein schönes Paar.

Am Ende des dritten Monats seit ihrem Brief, Frau Ypsi hatte sich gerade hinter einem Pott Tee verschanzt, klingelte es. Sie war so erschrocken, daß sie für einen Moment über der Seite Vermischtes erstarrte und das Bild von Maxie Popdudei kaum aus dem Sinn bekam, die wieder einmal geheiratet hatte und sich für einige Zeit aus dem Scheinwerferlicht zurückziehen wollte. Frau Ypsi, die Scheinwerferlicht nicht kannte, war so geblendet von dem Wort, daß Maxies Gesicht in einer Woge von Helligkeit versank, als es zum zweiten Mal klingelte. Endlich konnte Frau Ypsi ihren Schreck überwinden und lief zur Tür, riß sie auf und erstarrte aufs Neue: Ein kleiner Vietnamese mit grauem Haaransatz stand lächelnd auf dem Treppenabsatz, scheu und schüchtern wollte er die rechte Hand zum Gruß reichen, während die linke, an deren Handgelenk ein Täschchen baumelte, einen Strauß roter Rosen umklammert hielt. Frau Ypsi schickte sich nun ebenfalls an, ihre Rechte vorzuschieben. Sie lachten. Die Blumen nahm sie ihm erst einmal ab und führte ihn in den Flur, lud ihn ein, die Schuhe auszuziehen und in ein Paar Hausschluppen zu schlüpfen, die sie extra zu diesem Zweck vor einigen Wochen besorgt hatte. Eine Vase fand sie nicht, selbst ihre Mutter, deren Hausstand sie weiterführte, hatte keine besessen. Statt dessen musste ein leeres Gurkenglas herhalten, die wunderschönen, langstieligen roten Blumen aufzunehmen. Herr Lon schien ihr so vertraut, daß sie keine Scheu hatte, ihn bei den Schultern zu nehmen und ins Wohnzimmer zu führen, wo sie sich, einander gegenüber, in die beiden schweren, alten Ohrensessel fallen ließen. Für einen Moment war Frau Ypsi versucht, das Gespräch von heute früh fortzusetzen. Aber Herr Lon konnte nicht gut genug Deutsch, um es mit ihr aufzunehmen. Als sie das bemerkte, schlug sie sich in einer Aufwallung von Realitätssinn an die Stirn und begann, ihn in sehr einfachen Sätzen nach seinem Leben auszufragen. Schnell begriff sie, daß er eine Imbissbude in der benachbarten Kreisstadt betrieb, sehr viel früher einmal als Betreuer einer ganzen Horde junger Wäscherinnen aus Vietnam hierhergekommen war und nur deshalb bleiben konnte, weil er sich gegen alle Widerstände durchgesetzt und eine deutsche Frau geheiratet hatte. Auf Frau Ypsis Frage, wo diese sich denn zur Zeit aufhalte, schwirrte in Herrn Lons Augen einige Augenblicke lang das Unverständnis wie ein Schwarm aufgescheuchter Spatzen, aber sie wiederholte die Frage langsam und deutlich. Die Spatzen kamen zur Ruhe: Sie ist fort, weggelaufen, sagte er nur, und er müsse sich nun eine neue Frau suchen. Sie gefiele ihm ganz gut, jaja!, nickte er heftig und blickte von unten her zu ihr auf, als erwartete er einen Schlag, und tatsächlich war ihr vor Verlegenheit auf einmal schwarz geworden vor Augen, sie hüstelte, griff nach der drei Monate alten Zeitung, faltete sie zu einer Rolle und zog ihm kokett eins drüber, wozu sie herrlich kicherte. Herr Lon forschte in seinem Gesicht, bis ein immer breiter werdendes Lachen sich langsam von einem zum anderen Ohr zog. Schließlich warf er mehrmals den Kopf nach hinten, wenn wieder eine Lachsalve aus seinem Innersten heraufkroch und ganz plötzlich explodierte, und die beiden beruhigten sich nur zögerlich.

Als Frau Ypsi an ihren Kühlschrank zu denken begann, verflüchtigte sich die Beruhigung gleich wieder. Nur ein Eckchen Schmelzkäse, eine angebrochene Packung Cervelatwurst und zwei sich vor Schmerzen krümmende Scheiben Pumpernickel dümpelten darin vor sich hin. Nein, so konnte sie Herrn Lon, dem Imbißbudenbesitzer, nicht kommen, und in ihrem Hirn überschlugen sich die Varianten eines gemütlichen Abendessens. Aber Herr Lon, als hätte er es geahnt, zog aus seinem wirklich nur kleinen Täschchen zwei Packungen eines asiatischen Nudelgerichts hervor, dazu ein Tütchen mit frischem, zerkleinertem Gemüse. Schnell hatte er die Nudeln mit kochendem Wasser versetzt und das Gemüse in Frau Ypsis alter, gusseiserner Pfanne angebraten. Ein paar Tröpfchen Maggi ersetzten die Sojasauce, und als er alles miteinander vermischt hatte, duftete es so ungeahnt köstlich durch Frau Ypsis doch schon etwas altersklamme vier Wände, daß kein Halten mehr war: Mit Feuereifer überließ sie sich dem Essen, nahm weit mehr als die Hälfte und rülpste am Ende, was Herr Lon mit einem freundlichen Nicken quittierte.

Das Ende ist schnell erzählt: Der Doppelname Ypsi-Lon gefiel ihnen so gut, daß sie tatsächlich nach einem halben Jahr heirateten. Herr Lon zog in Frau Ypsis Wohnung und verwandte seine knappe Freizeit darauf, sie zu verkuscheln. Dafür brachte er vom Asiamarkt der Kreisstadt mal einen Wandteppich, mal einen Topf Kunstpflanzen mit. Gleich zu Beginn hatte er die ganze Wohnung mit sanften Pastellfarben gestrichen. Frau Ypsi mochte es, daß ihre alte Behausung unterm Dach nun angemessener ausgefüllt war, die zwei Zimmer waren ihr allein immer ein wenig zu weiträumig gewesen, um sie im Winter beide zu heizen, und daß sie jemandem zur Hand gehen konnte, der sein Geld mit seiner Hände Arbeit verdiente, tat ein Übriges. So fuhren sie frühmorgens immer beide in die Kreisstadt, Herr Lon freute sich über Frau Ypsis Putzbegabung, durch die er keine Hygieneinspektion mehr zu fürchten brauchte. Dafür brachte er abends jene Speisen mit, die sie sich wünschte. Nur sehr selten, zu Weihnachten oder anderen Feiertagen, holte sie die Flotte Lotte heraus für eine schöne Kartoffelsuppe, die sie beide genießen konnten. Was sie aber von nun an täglich zelebrierte, war ein Kaffeestündchen mit der regionalen Tageszeitung, die ihr Herrn Lon geschenkt hatte. Er hatte das Abonnement zu ihrem sechsundfünfzigsten Geburtstag in die Wege geleitet, und wenn sie am Nachmittag aus der Kreisstadt kam, in der er stets bis zum Abend blieb, wußte er sie gut versorgt und beschäftigt. Sie schnitt aus, sortierte vor, ordnete an. Breitete auf dem Tisch aus, was sie für wichtig, lustig oder auch nur mitteilenswert hielt, und legte ihm so täglich eine Presseschau vor, mit der er zunehmend besser Deutsch lernte, denn natürlich half sie ihm beim Lesen.

Jenes Inserat, das einst zum Ankerplatz für ihre unstet wandernden Augen geworden war mit seinem schwarzen Rand und dem fetten Halt! zu Beginn der drei Zeilen, fügte sie in ein Passepartout und spannte einen kleinen Kiefernholzrahmen darüber, ehe sie es in ihren Nachttisch legte und es täglich vor dem Einschlafen an ihr Herz drückte. Das Glas im Rahmen war kalt, und erst, wenn es so warm geworden war, daß sie es nicht mehr spürte, riß sie es sich von der Brust und packte es zurück in die Schublade. Mit rotem Stift hatte sie das Erscheinungsdatum der Anzeige darüber geschrieben, und wenn sie daran dachte, wie viele Zeitungen seit Beginn ihrer leidigen Arbeitslosigkeit an ihr vorbeigerauscht waren, jubilierte es in ihrem Inneren, daß sie ausgerechnet an jenem Tag mit der Flotten Lotte am städtischen Papierkorb unterhalb der Post vorbeigekommen war.