: Aus Fiktion wird Wissenschaft
Nachdem Michael Crichton das Genre des Wissenschaftsthrillers groß gemacht hat, geht es ihm jetzt mit „Welt in Angst“ vor allem darum, Recht zu haben. Der Spannung und literarischen Glaubwürdigkeit seines Buches ist das aber nicht zuträglich
VON KOLJA MENSING
Nicholas Drake ist der Chef einer großen Umweltorganisation. Er kämpft für eine gute Sache, doch das Interesse der Öffentlichkeit und seiner Geldgeber lässt deutlich nach. Also führt Drake der Menschheit die Folgen der „globalen Erwärmung“ möglichst drastisch vor Augen. Aus „möglichen Gefahren“ werden in seinen Statements „Katastrophen“, aus kleinen Temperaturschwankungen gleich jahrzehntelange Dürreperioden. Drake setzt Wissenschaftler unter Druck, fälscht Forschungsergebnisse und geht zuletzt gar über Leichen: Ökoterroristen sollen in seinem Auftrag ein künstliches Seebeben auslösen und die Küste Kaliforniens mit einer Riesenwelle überfluten. Anschließend, hofft er, werden die Spenden wieder fließen.
Auch Umweltschutz ist eben nur ein Geschäft – und zwar ein ziemlich schmutziges. In seinem neuen Wissenschaftsthriller „Welt in Angst“ stellt der amerikanische Bestsellerautor Michael Crichton die gut gemeinte Kritik am zivilisatorischen Fortschritt allerdings nicht nur unter Korruptionsverdacht, sondern erklärt sie gleich für vollkommen überflüssig. Und er meint es ernst damit. „Ich vermute, die Menschen im Jahre 2100 werden erheblich reicher sein als wir heute, mehr Energie verbrauchen, sich die Welt mit weniger Menschen teilen müssen und sich auch an mehr Natur erfreuen können als wir“, schreibt er in einem ausführlichen Nachwort. „Ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen um sie zu machen.“ Solche Aussagen sind auch vor dem Hintergrund des Genres bemerkenswert. Die Ursprünge des Wissenschaftsthrillers liegen in einer Zeit, als Zivilisationskritik sehr in Mode war. Seit dem 1972 vom Club of Rome veröffentlichten Bericht über die „Grenzen des Wachstums“, der eindringlich die Folgen der Bevölkerungsexplosion, der Rohstoffknappheit und der Umweltzerstörung beschrieb, galt es zumindest unter aufgeklärten Mitbürgern als ausgemachte Sache, dass die Zivilisation früher oder später an sich selbst zugrunde gehen würde. Spätestens seit dem verheerenden Reaktorunglück in Tschernobyl im Jahre 1986 zweifelte kaum noch jemand daran, dass die fortschrittsgläubige Menschheit sich ihr eigenes Grab schaufelt.
Zunächst reagierte die utopische Literatur mit düsteren Zukunftsszenarien. Anfang der Achtzigerjahre schrieben dann Autoren wie Neal S. Stephenson die ersten so genannten Ökothriller, und nach und nach entstand so im Grenzgebiet zwischen Science-Fiction, Horror- und Kriminalliteratur mit dem Wissenschaftsthriller ein neues Genre, das mit der Angst vor dem Weltuntergang bis heute enorme Erfolge vorweisen kann. Der deutsche Autor Frank Schätzing hat gerade erst mehr als 300.000 Exemplare von seinem Wissenschaftsthriller „Der Schwarm“ verkauft, in dem die Natur sich mit Sturmfluten und Walattacken an der Menschheit rächt, und der Hollywood-Blockbuster „The Day After Tomorrow“ füllte im letzten Sommer wochenlang die Kinosäle: Apokalypse, wow!
Michael Crichton gehört zu denjenigen, die das Genre groß gemacht haben, und auch er hat in seinen bis ins letzte Detail recherchierten Romanen und Drehbüchern gelegentlich einen leicht fortschrittsfeindlichen Ton angeschlagen. In „Jurassic Park“ (1990) klonten verantwortungslose Forscher angriffslustige Dinosaurier, und in „Beute“ (2002), seinem letzten großen Erfolg, geriet ein Schwarm von tödlichen Nanorobotern außer Kontrolle. Crichton war jedoch nie in erster Linie ein Schriftsteller mit Botschaft. Was ihn gegenüber vielen seiner Kollegen auszeichnet, ist sein ungeheures Talent, komplexe naturwissenschaftliche Zusammenhänge in spannende Prosa zu übersetzen und dabei der Forschung eine Nasenlänge voraus zu sein. Kurz nach dem Erscheinen von „Jurassic Park“ sequenzierten Wissenschaftler tatsächlich dreißig Millionen Jahre alte DNA aus in Bernstein eingeschlossenen Insekten, und auch einige ziemlich steile Thesen im Nachfolgeband „Vergessene Welt“ wurden von Paläontologen nachträglich bestätigt. Aus Science wurde Fiction und umgekehrt: Michael Crichton gilt zu Recht als Visionär.
Mit seinem neuen Roman hat er sich allerdings von seinem spielerischen, literarischen Umgang mit der Wissenschaft verabschiedet. Jetzt geht es ihm darum, Recht zu haben – und zwar gegenüber all denen, die seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht müde werden, den Untergang der Menschheit zu beschwören. So schlimm ist es doch gar nicht, erklärt Crichton auf knapp 600 Seiten: „Welt in Angst“, könnte man sagen, ist damit der erste Antiwissenschaftsthriller.
Die Actionszenen sind natürlich nicht schlecht. In der Antarktis sprengen die Ökoterroristen gewaltige Eisbrocken aus Gletschern und in einem amerikanischen Nationalpark verwandeln sie ein harmloses Gewitter mit Hilfe von Boden-Luft-Raketen in ein lebensbedrohliches Unwetter. Ein kleines Team unter der Führung eines Geheimdienstagenten versucht nun, diese Anschläge zu verhindern. Ein naiver junger Anwalt, zwei schöne Frauen und ein asiatischer Nahkampfspezialist: Crichton hat kein Klischee ausgelassen, aber das eigentliche Problem ist, dass seine Figuren über weite Strecken nur damit beschäftigt sind, sich in endlosen Diskussionen gegenseitig davon zu überzeugen, dass die These vom Klimawandel nur eine Schutzbehauptung von Lobbyisten wie Nicholas Drake und einigen vermeintlich engagierten Politikern ist.
„Natürlich wissen wir, dass gesellschaftliche Kontrolle am besten durch Angst erreicht wird“, legt Michael Crichton einem seiner Protagonisten die Formel in den Mund, die zuletzt Michael Moore im Zusammenhang mit 11. September geradezu gebetsmühlenartig wiederholt hat. Trotzdem ist „Welt in Angst“ kein „politischer Wissenschaftsthriller“, wie Crichton selbst behauptet, sondern der Versuch, eine politisch leicht inkorrekte Meinung notdürftig mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur zu kaschieren. Zahlenden Mitgliedern von Greenpeace und dem World Wildlife Fund wird dieser Roman nicht besonders gefallen– aber eingeschworene Michael-Crichton-Fans werden ihn mit Sicherheit hassen.
Das größte Armutszeugnis, das Crichton sich als Schriftsteller selbst ausstellt, sind die zahlreichen Fußnoten, die zusammen mit einer langen Literaturliste nur einem einzigen Zweck dienen: Sie sollen fein säuberlich die Auffassungen des Autors belegen. Der literarischen Glaubwürdigkeit sind sie allerdings genauso abträglich wie die flachen Charaktere.
Vielleicht hätte Michael Crichton einfach ein Sachbuch oder ein Manifest schreiben sollen. Es steht allerdings zu befürchten, dass das vermutlich niemand gelesen hätte. So sehr interessiert sich heute wohl doch niemand mehr für den Umweltschutz. Da muss man Nicholas Drake wohl Recht geben.
Michael Crichton: „Welt in Angst“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Karl Blessing Verlag, München 2005, 603 Seiten, 24 €