: „Hallen voll mit Koteletts sollte man meiden“
Die Grüne Woche hat einen guten Termin. Denn die Leute essen im Winter besonders gerne, sagt der Ernährungsspezialist Cornelius Frömmel. Das Gehirn warne aber viel zu spät vor einer Überdosis Kalorien. Messebesucher sollten daher pflanzliche Nahrung testen. Damit könne man sich nicht überfressen
INTERVIEW ULRICH SCHULTE
taz: Herr Frömmel, wann gehen Sie zur Grünen Woche?
Cornelius Frömmel: Überhaupt nicht. Ich folge leider dem Spruch: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.
Empfehlen Sie anderen den Besuch?
Sagen wir es so: Ich empfehle vielfältige Ernährung, und die Grüne Woche ist eine gute Gelegenheit, Neues auszuprobieren. Variable Esser konsumieren weniger und gesünder. Wer einseitig isst, erhöht mit der Zeit die Dosis – für das gleiche Befriedigungsniveau.
Was offenbart die Messe über deutsche Esskultur?
Einiges. Denken Sie an literarische Charakterisierungen. Der französische Dichter Romain Rolland schreibt: „Die Deutschen füllen sich den Bauch, die Franzosen essen.“ Mein Vater war sehr frankophil. Als ich einmal mit meinen Eltern durch Frankreich fuhr, rasteten wir in einem Landgasthof. Davor war eine Baustelle. Ich habe die Arbeiter bei einer Pause beobachtet: Aperitif, Schwätzen. Wasser, Weißbrot, Schwätzen. Rotwein, Schwätzen. Suppe, Schwätzen … So ging das zwei Stunden.
Gemütlich.
Und gesund: Wer bei der Mahlzeit viel redet, isst weniger. Die Alltagserkenntnis ist wissenschaftlich belegt. Schaue ich dagegen hier Studierenden und Assistenten in der Mensa zu, so füllen die ihren Bauch in zehn Minuten. Franzosen betätigen sich kulturell, Deutsche schlingen mehrheitlich.
Ist Letzteres so erstaunlich? In seiner Evolutionsgeschichte musste der Mensch fast immer Hunger leiden.
Von Einflüssen der Kultur aufs Essverhalten mal abgesehen – aus ernährungstheoretischer Sicht ist es viel besser, langsam zu essen. Unsere Körpersysteme, die Sattheit kontrollieren und melden, reagieren viel zu spät. Sprich: Wir überfüllen uns leicht.
Wie entsteht das Gefühl der Sättigung?
Mehrere Faktoren spielen zusammen. Wir haben zum Beispiel eine Bissenzählmaschine im Kopf. Wer öfter kaut, wird schneller satt. Der entscheidende Sattheitsreiz kommt aber erst, wenn Nährstoffe ins Blut übergehen. Das dauert ungefähr eine halbe Stunde und mehr. Vorher läuft eine Reihe biologischer Prozesse ab: Verdauungssäfte in Magen und Dünndarm zersetzen die Nahrung, dann startet die Resorption. Am schnellsten wechseln Zucker und Aminosäuren ins Blut, sonst würden sie von den Darmbakterien aufgefressen. Dann folgen die Fette. Der Zuckergehalt im Blut steigt, der Körper schüttet Insulin aus, das Gehirn erhält die Nachricht: Achtung, langsam bin ich satt.
Macht das gefürchtete Fett schneller satt?
Interessanterweise beeinflusst es das Sattheitsgefühl kaum. Von einer Ausnahme abgesehen: Wird der Magen durch einen Haufen fetttriefender Pommes gedehnt, signalisiert das dem Hirn auch: Schluss! Aber auch dieser Reiz, den irgendwann der pralle Magen setzt, kommt zu spät. Die geballte Überdosis Kalorien ist schon drin.
Und wir sollen unseren Körper, der nur so unzureichende Alarmsysteme hat, auf die Grüne Woche schleifen?
Wenn die Messe ihren Titel wörtlich nimmt, wäre es kein Problem. Pflanzliche Nahrungsmittel, nehmen wir Salat, können Sie essen, so viel Sie wollen. Ein hoher Wassergehalt kombiniert mit Zellulose – sich daran zu überfressen, ist kaum möglich. Aber fast alles, was wir brauchen, ist in den Pflanzen enthalten. Auf Wurst und Fleisch sollten Sie aber Acht geben. Auch wenn der Körper im Winter naturgemäß mehr Fett ansetzt.
Menschen fressen sich Winterspeck an?
Sie wiegen in der kälteren Jahreszeit im Schnitt mehr. Mediziner haben in unseren Breiten sogar beobachtet, dass sich im Winter in Blutgefäßen mehr Ablagerungen finden. Die Adern sind arteriosklerotischer. Im Sommer sind sie dann wieder weniger verkalkt. Der Termin für die Grüne Woche ist also klug gewählt. Die Leute essen gerade in der kalten Jahreszeit besonders gerne.
Voriges Jahr gab der Durchschnittsbesucher der Grünen Woche 130 Euro aus. Haben die Leute – biologisch begründet – keine Chance, sich gegen das Überangebot zu wehren?
Natürlich haben sie die. Zum Glück verfügt der Mensch über den freien Willen. Schwache Gemüter sollten gefährdende Hallen – voll mit Steaks und Koteletts – eben meiden. Wichtig ist, sich gegen die Werbung zur Wehr zu setzen. Eltern sollten ihre Kinder früh über gesundes Essen aufklären. Die etwas zu kräftigen Kinder werden ja seit längerem heftig diskutiert. Altersdiabetes war früher ein Fall für Menschen zwischen 45 und 70 Jahren und mehr. Heute leiden bei uns schon Kinder daran. Die Evolution hat einen Schutz vor Werbung leider nicht eingebaut, weil sie nie ein Problem war.
Wie viel ist beim Essverhalten angeboren, wie viel anerzogen?
Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Grob gesagt ist vielleicht nur ein Drittel genetisch bedingt. Ein weiteres Drittel des Verhaltens bekommt das Kind schon im Mutterleib mit. Das Essverhalten und Nahrungsangebot der Mutter während der Schwangerschaft beeinflusst wahrscheinlich das spätere Essverhalten des Kindes. Genauere Daten fehlen noch, doch wird dabei intensiv geforscht. Der Rest ist Sozialisation.
Wir essen so, wie unsere Eltern essen?
Vor der Wende aßen die Ostdeutschen sogar noch anachronistischer, eher wie ihre Großeltern. Teilweise hinkt das Essverhalten dem modernen Kenntnisstand zwei Generationen hinterher. Das ist ein Problem. Handwerksberufe waren häufiger, mein Großvater arbeitete als Rohrleger, der brauchte mehr Kalorien als ein Mediziner. Die Bereitschaft, mit der Tradition zu brechen, nimmt aber zu. Heutige Generationen finden eigene Möglichkeiten.
Wenn an einem Stand Umsonstproben gereicht werden, legen wohl genährte Besucher ihre Wohlerzogenheit ab. Warum diese Gier?
Auch wenn Gier durch gute Erziehung überdeckt wird, ist sie biologisch angelegt. Ein kleiner Teil der Leute stürzt sich nie aufs Buffet. Ein großer Teil legt in manchen Momenten seine Sozialisation ab – zugunsten tierischer Verhaltensweisen. Ich finde das nicht unsympathisch. Es ist ja irgendwie sehr ehrlich, und der Schaden ist gering.
Spielt bei Berlinern das Luftbrückentrauma eine Rolle?
Atavismen im Verhalten kommen tatsächlich wieder vor: nichts weglassen, es könnte ja lang nichts mehr geben. Auch Sozialisation unterliegt einer Evolution. Unsere Großelterngeneration – 1870 bis 1900 geboren – hat die Hygiene erst richtig begriffen. Zähneputzen oder Händewaschen haben sich seither durchgesetzt, weil Hygiene letztlich zu einer höheren Lebenserwartung führt.
Können die Deutschen eine entspanntere Haltung zum Essen entwickeln?
Ich denke schon. Das zeigt die Entwicklung in Ostdeutschland: Die Vielfalt ist angekommen, der Käseverzehr steigt zum Beispiel. Und selbst in der kurzen Zeit nach der Wende ist die Lebenserwartung im Osten gestiegen.
Mit welchem Gericht könnte man Sie doch noch auf die Grüne Woche locken?
Ich liebe Sauerbraten mit Klößen und Rotkohl. Den bekommt aber nur meine Mutter perfekt hin, wir haben ihn mehrmals vergeblich nachgekocht. Schlechte Chancen also für die Grüne Woche.