Robin Alexander über SCHICKSAL : Für eine Hand voll Klopse
Wie tief kann ein Mensch eigentlich sinken? So niedrig, dass er bei Ikea wimmert
Wissen Sie noch, wann Sie Ihre Würde verloren haben? Ich kann diese Frage für mich ganz genau beantworten. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, acht Monate und sechs Tage. Es war gestern. Bis dahin hatte ich durchgehalten – im Großen und Ganzen. Ich hatte Nein gesagt zum Kreiswehrersatzamt und Nein zu einem Arbeitgeber, den ich nicht mochte. Die Zahl der Artikel, für die ich mich wirklich schäme, ist einstellig. Das gilt bei Journalisten als durchaus akzeptabel. Auch privat habe ich Gefilde erreicht, in denen es sich sicher segelt: Meine moralische Integrität schien mir gefestigt, ja sturmsicher. Welch ein Irrtum!
Mein Hochmut wurde mir ausgetrieben und meine Erbärmlichkeit demonstriert, wo deutsche Männer seit Generationen klein gemacht werden. In der Armee? Nein. In der Schule? Ach was. Vor dem Finanzamt? I wo. Bei: Ikea.
Ja, ich weiß: Ikea ist nicht witzig und sogar in meinem Arbeitsvertrag steht: „Rassismus, Sexismus, Diskriminierung von Minderheiten jeder Art sowie Kolumnen über schwedische Möbelausstatter finden in der tageszeitung nicht statt.“ Ich unterstütze das: Ikea begegnet man nicht mit Ironie, sondern mit Hass. Das richtige Instrument für die Auseinandersetzung mit diesem Feind des Guten, Wahren, Schönen ist nicht die Feder, sondern der Molotow-Cocktail. Sie merken vielleicht: Ich ereifere mich. Das tun nur Leute, die etwas zu kompensieren haben. Habe ich etwas zu kompensieren? Und ob!
1. Ich verdiene nicht genug Geld, um meine Regale woanders zu kaufen.
2. Wenn ich genug Geld verdienen würde, um meine Regale woanders zu kaufen, wüsste ich gar nicht, wo man Regale bekommt. Außer bei Ikea.
3. Ich kaufe nicht nur bei Ikea, weil es praktisch ist. Ich esse auch bei Ikea, weil es praktisch ist. Immer das Gleiche: Köttbullar-Klopse mit brauner Soße, für uns um 15 Prozent reduziert für 5,10 Euro statt 6 Euro, weil wir eine Family-Card haben.
„Bitte, bitte, lass uns wenigstens so tun, als hätten wir keine Family-Card“, bettle ich meine Freundin immer an: „Dann gehören wir nicht ganz so offensichtlich dazu.“ – „Wieso? Ist doch praktisch?“, sagt sie dann.
Manchmal antworte ich dann gehässig und völlig deplatziert: „Damals war es auch praktisch, in die FDJ einzutreten, was?“ Und dann sagt sie schnippisch: „Ja, obwohl es da nur Königsberger Klopse gab. Mit Köttbullar wäre ich immer noch drin.“
An das alles habe ich mich gewöhnt, wie man sich irgendwann damit abfindet, dass es meist regnet und Bayern München Deutscher Meister wird.
Aber gestern war ich zum ersten Mal in meinem Leben allein bei Ikea. Ich war in Eile. Eine aufblasbare Wickelunterlage für unseren neuen Mitbewohner fehlte. Zu Hause schrien wartend Mutter und Kind. Kochen musste ich auch noch. Und aufräumen. Und diesen Text schreiben. Da kam mir eine schreckliche Idee. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass ein Mensch fähig ist, sich so zu erniedrigen. Falschen Trost spendete der Gedanke, ich sei unbeobachtet. Ich stellte mich beim Ikea-Restaurant in die Reihe, blickte mich ein letztes Mal verstohlen um, riss dann schnell eine bisher unter dem Mantel verborgene Tupperdose hervor und bat den Angestellten hinter der Theke mit gepresster Stimme: „Können Sie mir die Köttbullar auch zum Mitnehmen geben?“ Der Mann in Ikea-Uniform schaute mich mitleidig an: „Tut mir leid. Das ist gegen die Vorschriften.“
Ich verzweifelte. Wie tief war ich gesunken: Ich bat in einem Pappmöbelgeschäft um Pappklöße und musste mich von einem Pappkameraden abwimmeln lassen.
„Es ist ein Notfall. Wir haben ein Neugeborenes. Tun Sie’s für das Baby“, wimmerte ich. – „Tut mir leid. Vorschriften“, sagte der Scherge.
Schließlich kaufte ich die Köttbullar-Klöpse dann auf einem Teller und füllte sie am Tisch heimlich in die Tupperdose. Dann stahl ich mich hinaus. Ich bezahlte: mit 6 Euro und meiner Würde. Dass wir eine Familienkarte haben, hatte ich ganz vergessen.
Fragen zu Ikea? kolumne@taz.de MONTAG: Peter Unfried über CHARTS