„Wir wollen reif werden für die EU“

INTERVIEW BARBARA OERTEL

taz: Herr Suschko, die Zelte im Zentrum von Kiew sind abgebaut, und die orange Revolution ist zu Ende. Was ist jetzt die wichtigste Aufgabe des neuen Präsidenten?

Olexandr Suschko: Die Gesellschaft muss zu einem aktiven Mitspieler in der Politik werden. Das darf nicht nur ein Intermezzo von einer Woche oder einem Monat sein, sondern muss in diesem Land zur Norm werden. Die Bildung neuer Institutionen wird eine schwierige Etappe sein. Das betrifft in erster Linie die Bildung einer neuen Regierung. Das Wichtigste ist, dass die Verhandlungen offen geführt werden und es keine Absprachen hinter den Kulissen gibt. Man könnte das Ganze mit einer Metapher beschreiben: Bis zum heutigen Tag war die Gesellschaft eine schwangere Frau, die darauf wartet zu gebären und sich davon die Lösung ihrer Probleme erhofft. Nun, nach der Geburt der Revolution und dem Machtwechsel, zeigt sich, dass die Probleme erst beginnen.

Welches sind die schwierigsten Probleme?

Die Personen, die sowohl im Zentrum und in den Regionen Schlüsselpositionen bekleiden könnten, sind nicht sehr zahlreich. So wird es wahrscheinlich darauf hinauslaufen, sich mit regionalen Eliten zu verständigen, die vom Geist der Reform weit entfernt sind. Das heißt, es müssen viele Menschen in die Arbeit eingebunden werden, die gar nicht genau begriffen haben, was im Land passiert ist. Und die werden nicht immer adäquat auf die Probleme reagieren können.

Wo muss Juschtschenko als Erstes ansetzen?

In den ersten 100 Tagen der Präsidentschaft wird es sehr wichtig sein, die manipulierte und künstlich herbeigeredete Konfrontation verschiedener Regionen zu entschärfen. Die Menschen sind emotional sehr aufgewühlt. Da müssen ein Zugang und eine Sprache gefunden werden, um dieser Katastrophenstimmung entgegenzuwirken, die jetzt noch im Donbass herrscht. Ein weiteres Problem sind die hohen Erwartungen. Es wurde ja nicht nur eine Führung gegen eine andere ausgetauscht, sondern die Menschen erwarten ein qualitativ neues Leben und eine qualitativ neue Beziehung zwischen der Macht, der Politik und dem Business.

Einige Experten vertreten die Meinung, dass es unter Juschtschenko zu keinem umfassenden Austausch der Eliten kommen wird. Wie sehen Sie das?

Zweifellos wird es eine Rotation der Eliten geben. Doch das hat nichts mit einer radikalen Durchleuchtung und Abrechnung zu tun. Die war 1989 nach dem Kollaps des Kommunismus in Zentraleuropa möglich, als alle Leute ausgetauscht wurden, die zum kommunistischen System gehörten. Hier in der Ukraine findet der Machtwechsel nicht in so einem radikalen Ausmaß statt. Alle, die die Opposition heute anführen, haben ja früher in diesem System gearbeitet.

Wie wird sich der Machtwechsel auf die Oligarchen auswirken? Haben sie etwas zu befürchten?

Niemand wird mit Repressionen gegen die Vertreter des Business vorgehen, die Kutschma nahe stehen. Die Oligarchen als Phänomen müssen jedoch langsam zu einer Erscheinung der Vergangenheit werden. Natürlich, das Big Business wird bleiben, doch es verliert die Möglichkeit, den Staat als Hauptinstrument zu benutzen, um Profite zu machen. Dies ist die Schlüsselaufgabe, die Juschtschenko lösen muss. Denn die fehlende Trennung von Macht und Geld ist das fundamentale Problem dieses Landes, aus dem alle anderen resultieren. Wenn Juschtschenko dieses Problem nicht in Angriff nimmt, hat er den falschen Posten. Diejenigen, die Juschtschenko an die Macht gebracht haben, sind sehr fordernd. Wenn er den Erwartungen nicht gerecht werden wird, werden sie ihn schnell abstrafen.

Juschtschenko hat kürzlich angedeutet, die Verfassungsreformen noch einmal überdenken zu wollen. Halten Sie das für realistisch?

Diese Äußerung Juschtschenkos betrifft nicht die Stärkung des Parlaments zu Lasten des Präsidenten. In dieser Frage herrscht praktisch Konsens. Die Reform kann nur greifen, wenn ein Parteiensystem existiert. Das ist in der Ukraine nicht der Fall. Entweder werden die Parteien von Oligarchen kontrolliert oder von Politikern gegründet, um nach kurzer Zeit wieder zu verschwinden und durch neue ersetzt zu werden. Dieser Prozess, der jetzt in der Ukraine beginnt, wird die Stärkung des Parteiensystems stimulieren. Bis heute haben die Parteien keinen Einfluss auf die Regierungsbildung. Das hat die Motivation für die Bildung von Parteistrukturen gesenkt.

Woher kommt das?

Noch vor fünf Jahren funktionierte alles nach einem einfachen Schema: Den Kommunisten standen alle anderen gegenüber. Mit dem Auftreten einer linken und einer rechten Opposition differenzierte sich das System aus. Einige Strukturen entsprechen schon voll und ganz denen eines richtigen Parteiensystems.

Und wie wird sich dieses System weiterentwickeln?

Das Bündnis „Unsere Ukraine“ muss jetzt eine vollwertige Parteistruktur ausbilden. Und die Parlamentswahlen 2006 werden uns schon ein ganz anderes Bild präsentieren: Ich könnte mir ein Entwicklung hin zu einem Dreiparteiensystem vorstellen. Eine Gruppe gehört dem liberalen Typ an und orientiert sich an der Europäischen Union, eine zweite Gruppe ist ebenfalls proeuropäisch orientiert, hält aber an sozialistischen Werten fest, wobei das schwedische Modell ein Vorbild sein könnte. Die dritte Gruppe könnte die so genannte ostukrainische sein, die die Interessen derjenigen vertritt, die sich an Russland und dem Archetypus postsowjetischen Denkens orientieren.

Apropos Russland: Wie werden sich die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine entwickeln?

Russland hat in der Ukraine sehr viel Kredit verspielt. Wenn Präsident Putin wirklich ein Pragmatiker ist, sollte er die politischen Realitäten anerkennen. Zweifellos wird sich der Charakter der russisch-ukrainischen Beziehungen ändern. Bisher war das eine Beziehung zweier Präsidenten, die sich zum Tee trafen und Fragen besprachen. So wurde beispielsweise die Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums beschlossen. Darüber war kein Ministerium informiert. So eine Politik wird es nicht mehr geben – eine versteckte, dunkle Politik im Nebel.

Wie werden sich die Ereignisse in der Ukraine auf die Stellung des Landes in der Region auswirken?

Auf jeden Fall wird die Ukraine neben Russland zu einem alternativen Führer in der Region der osteuropäischen Staaten werden. Demnächst gibt es in der GUS zwei Gruppen. Eine orientiert sich am postsowjetischen Wertesystem, die andere an europäischen Werten. Ich glaube, dass die Ukraine, Georgien und Moldawien jetzt sehr daran interessiert sind, ein Dreieck von Staaten zu bilden, die ihre Perspektive in einer europäischen Integration sehen. Ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr nach den Wahlen auch zu einem Regierungswechsel in Moldawien kommt. Die rechte Opposition dort hat schon das Orange als Symbol übernommen.

Und die zweite Gruppe?

Russland, Weißrussland und Kasachstan werden sich weiter an Russland anlehnen. Das ist nicht schädlich, sondern wird zu einer gesunden Konkurrenz führen. Ich hoffe nur, dass diese Staaten dann vergleichen werden, welches Modell besser ist. Ich halte unseres für besser und für nicht ausgeschlossen, dass die Revolutionswelle mittelfristig auch diese Staaten erfasst.

Wie wird die künftige Strategie der Ukraine gegenüber der Europäischen Union aussehen?

Die ist klar: Wir wollen der EU nicht später als die Türkei beigetreten, wünschenswert wäre natürlich früher. Eine Europäische Union mit der Türkei, aber ohne die Ukraine wäre eine Parodie auf ein vereintes Europa. Wenn es uns gelingt, die demokratische Entwicklung zu stärken und unsere Institutionen und unseren Rechtsstaat den EU-Kriterien anzupassen, rechne ich damit, dass man in fünf Jahren von der Aussicht auf Beitrittsverhandlungen sprechen kann. Wir verstehen, dass es innerhalb der EU eine starke Opposition und noch kein Vertrauen in die Ukraine gibt. Wir hoffen aber, dass sich diese Meinung ändert.

Welche Erwartungen haben Sie an die Europäische Union?

Auf der offiziellen Ebene muss die EU endlich aufhören, mit den Worten Romano Prodis zu sprechen: Die Ukraine hat keine Chance, Mitglied der EU zu werden. Die Position spiegelt die Meinung jenes Teils der europäischen Elite wider, der Europa in die Stagnation führt. Ich verstehe, dass es Leute im fernen Brüssel gibt, denen es besser gefallen würde, wenn hier Janukowitsch regieren und ein autoritäres Regime herrschen würde. Dann hätte Europa nichts tun müssen. Doch die Ukraine hat sich für einen anderen Weg entschieden.