Demokratische Kamera

Am Wochenende fand im Zeughauskino die Jahrestagung der Arbeitsgruppe „Cinematographie des Holocaust“ statt. Es ging um die Bedeutung des Films in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen

VON JAN-HENDRIK WULF

Vor dem Hauptkriegsverbrechertribunal in Nürnberg gibt sich sogar Hermann Göring konziliant: „Nicht annähernd in diesem Ausmaß“ habe er vom Judenmord gewusst. Reichsjugendführer Baldur von Schirach erkennt zerknirscht, dass „ich die Jugend für einen Mann erzogen habe, der ein millionenfacher Mörder war“. Albert Speer gesteht ein, dass sich „alles als ein Fehler erwiesen“ habe, und hofft, dass „in Zukunft entartete Kriege zu verhindern“ seien. Die Reihe der angeklagten Nazi-Größen mit ihren Kopfhörern fand Eingang in das kollektive Bildgedächtnis. In Nürnberg betrat man juristisches Neuland. Erstmals hielt hier das Medium Film Einzug in den Gerichtssaal. Und das in doppelter Funktion: einerseits zur Dokumentation des Verfahrens selbst, andererseits als Mittel der Beweisaufnahme.

Zum Thema „Nuremberg and its Lesson“ fand an diesem Wochenende im Berliner Zeughauskino die Jahrestagung der Arbeitsgruppe „Cinematographie des Holocaust“ statt. Im Mittelpunkt stand dabei die Bedeutung des Films in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, dem Jerusalemer Eichmann-Prozess sowie die spätere Aufarbeitung beider Verfahren in Dokumentar- und Spielfilmen.

Der Glaube an die Wirksamkeit von Bildern durchzieht die gesamte Reeducation. „Von Anfang an vertrauten die USA den Übergang von Diktatur zur Demokratie der Kamera an,“ erläutert Cornelia Vismann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte. Das Nürnberger Tribunal sei als „Courtroom-Drama“ angelegt worden, um der Welt eine moralische Lektion zu erteilen. Politische Verschwörung, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten der Zivilisation zukünftig erspart bleiben.

So gab es im Nürnberger Gerichtssaal drei fest installierte Kameras, eine riesige Leinwand, Scheinwerferbatterien an der Decke und sogar kleine Spots über den Angeklagten. Zeitungen berichteten über das Mienenspiel der Nazi-Größen, wenn sie mit ihren Verbrechen konfrontiert wurden.

Und das geschah in erster Linie mit filmischen Mitteln. Der Berliner Filmhistoriker Jeanpaul Goergen listet auf, dass in Nürnberg insgesamt zehn Filme als Beweismittel vorgeführt worden seien. „Nazi Concentration Camps“ zeigt KZs als integralen Bestandteil der Nazi-Herrschaft, und „The Nazi Plan“ entstand aus dem Material deutscher Wochenschauen. In ihrer Urteilsfindung würdigten die Nürnberger Richter die von den alliierten Filmteams zusammengestellten und mit eidesstattlichen Erklärungen versehenen Dokumente als Beweisstücke.

Doch wie die verwickelte Entstehungsgeschichte von Stuart Schulbergs Dokumentarfilm „Nürnberg und seine Lehre“ (USA 1947–1948) zeigt, konnte der aufklärerische Anspruch des Mediums auch mit der Besatzungspolitik kollidieren. Erst im November 1948 hatte der Film, der den Verlauf der Prozesse nachzeichnet und dabei Aufnahmen der deutschen Kriegsverbrechen kommentierend einmontiert, in Stuttgart Premiere. In den USA kam er niemals in die Kinos. Aufnahmen vom Holocaust passten nicht mehr in die politische Landschaft, als Westdeutschland zum Bollwerk gegen den Kommunismus ausgebaut werden sollte.

Der Jerusalemer Eichmann-Prozess folgte, wie später die Berliner Filmwissenschaftlerin Julia Vismann ausführte, in seiner medialen Inszenierung dem Modell von Nürnberg. Erstmals kam hier außerhalb des Fernsehstudios die damals neue Videotechnik zum Einsatz. Fernsehzuschauer in der ganzen Welt konnten Eichmann in seinem schusssicheren Glaskasten betrachten und die belastenden Aussagen von Holocaust-Überlebenden verfolgen.

Der US-Regisseur Leo Hurwitz montierte aus dem Trial-Footage die halbstündige Dokumentation „Verdict for Tomorrow“ (1961). Vismann zufolge interpretiert auch Hurwitz das Tribunal mit seiner „moralisch-erzieherischen Funktion“ als historisches Courtroom-Drama. Doch, da gibt sich Julia Vismann abgeklärt, „ein Dokumentarfilm repräsentiert nicht die Wirklichkeit“, sondern nur die Absicht seiner Macher.

Das birgt Konfliktpotenzial, wie sich an Eyal Sivans filmischer Neubearbeitung des Eichmann-Prozesses zeigt. Ausgehend von Hannah Ahrends These von der Banalität des Bösen und mit deutlichem Gegenwartsbezug konstruiert Sivan in „Un spécialiste“ (1999) den Angeklagten als modernen Manager. Doch der Jerusalemer Filmwissenschaftler Hillel Tryster belegt anhand von Vergleichen mit dem Originalmaterial, dass Sivan die Aussagen der Belastungszeugen durch Manipulationen an der Tonspur entstellt habe. Sein Urteil über solchen „postmodernen Bullshit“: „Es war die Absicht des Regisseurs, sein Publikum zu täuschen.“ Offenkundig ist das schon geglückt: Zum Shoah-Gedenktag lief Sivans Film unbeanstandet im israelischen Fernsehen.

Dokumentarfilme können ihre Betrachter eben nicht der eigenen Wahrheitssuche entheben. Im Rahmen der Tagung wird so auch Marcel Ophuls fast fünfstündiges Werk „Memory of Justice/Nicht schuldig?“ (USA/BRD/GB 1973–76) gezeigt. Ophuls stellt die Aufnahmen der Nürnberger Prozesse in den Kontext der Siebzigerjahre. Disparat stehen hier Bilder und ihre moralischen Lehren nebeneinander: In Vietnam und Algerien hat es neue Kriege gegeben.

Die Kläger von Nürnberg rücken als moralische Instanz wieder ins Zwielicht. Der aus der Haft entlassene Großadmiral Dönitz gibt sich im Gespräch als standhaft unwissender Greis. Der Geiger Yehudi Menuhin berichtet, dass er nach der deutschen Kapitulation sofort nach Berlin gereist sei, um Konzerte zu geben. Albert Speer wird als geläuterter Rentner in seinem Heim gezeigt. Die Toten bleiben tot, doch dieser Mann ist unbestreitbar demokratisch resozialisiert. Soll einen die Besserungsfähigkeit des Nazi-Täters hoffnungsfroh stimmen?