: „Alle sollten diesen Raum für ihre Vernetzung nutzen“
Für João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST ist das Weltsozialforum vor allem ein Raum für aktionsorientierten Austausch, nicht für Parteipolitik
taz: Herr Stedile, was erwarten Sie vom Weltsozialforum?
João Pedro Stedile: Das Forum ist und bleibt ein Raum für Begegnungen. Ein Raum, in dem sich Intellektuelle, NGOs und soziale Bewegungen jedes Jahr treffen, um sich auszutauschen und die internationale Situation zu analysieren. Alle sollten diesen Raum für die Vernetzung nutzen. Wir vom Kleinbauern-Dachverband Vía Campesina zum Beispiel nutzen das Forum auch, um zu überlegen, wie wir unsere Auseinandersetzung mit dem internationalen Finanzkapital organisieren: Wir versuchen, mit unseren Partnern den Zeitplan für die Mobilisierungen auf internationaler Ebene festzulegen.
Haben die letzten zwei Jahre unter Präsident Lula da Silva den Kontext der Debatten in Brasilien verändert?
Die Regierung Lula hat ebenso wenig Einfluss auf diesen Diskussionsraum wie 2001 und 2002 die Regierung von Fernando Henrique Cardoso.
Aber bisher war Lula immer einer der Stars. Wäre jetzt nicht ein guter Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz und eine Strategiedebatte der lateinamerikanischen Linken?
Die Linke ist in einer Krise, keine Frage. Sie hat kein konkretes Projekt, und keiner weiß, wie das Volk zu organisieren wäre. Eine Debatte darüber ist natürlich unverzichtbar, aber ich glaube nicht, dass das Weltsozialforum dafür der geeignete Rahmen ist. Denn hier ist der Raum für die sozialen Bewegungen und nicht für parteipolitische Debatten.
Meinen Sie, die brasilianische Regierung wäre überhaupt noch in der Lage, den Weg zu einem „anderen“ Wirtschaftsmodell in Lateinamerika zu weisen?
Lula führt eine Koalitionsregierung an, die ideologisch in der Mitte angesiedelt ist. Da gibt es sowohl neoliberale als auch linke Minister – und in diesem Spektrum kann Lula gar nichts anführen. Ohne eine klare Position kann niemand führen. Wen auch? Diese Regierung hat keinen konkreten Plan für eine nationale Entwicklung. Die internationale Ausstrahlung Brasiliens hängt schließlich nicht von geschickter Diplomatie ab, sondern von der Fähigkeit, die sozialen Probleme zu lösen. Und davon sind wir weit entfernt.
Nicht einmal die hoch gelobte brasilianische Außenpolitik überzeugt Sie also?
Außenpolitisch hat es dank Minister Celso Amorim Fortschritte gegeben. Aber wirtschaftlich haben der Agrar- und der Handelsminister die Unterwerfung unter die Interessen des Kapitals und der USA fortgesetzt. Wieder mal haben wir die internationale Arbeits- und Produktionsteilung akzeptiert: Wir exportieren weiter unverarbeitete Rohstoffe und Agrarprodukte.
Meinen Sie, Hugo Chávez wäre eher in der Lage, eine Führungsrolle einzunehmen?
Chávez steht vor derselben Herausforderung wie Lula: Er muss die Umverteilung vorantreiben und die sozialen Probleme Venezuelas lösen. Dann könnte er durchaus einmal zu einem Beispiel für Lateinamerika werden.
INTERVIEW: GERHARD DILGER